Dilan Baran
Die globale Nahrungsmittelkrise droht laut IWF und Weltbank zur „humanitären Katastrophe“ in Afrika zu werden: In der Pandemie haben viele arme Staaten Schulden gemacht – nun droht Hunger. Die Welternährungsorganisation (FAO) hat für den März den höchsten Preisindex für Nahrungsmittel seit dessen Einführung 1990 erhoben. Der Sprung vom Februar, dem Monat des Kriegsbeginns in der Ukraine, auf den März liegt bei satten zwölf Prozent in nur einem Monat. Die Weltbank erklärte, ein Anstieg von durchschnittlich mehr als 30 Prozent sei möglich. Es trifft einmal mehr die Ärmsten – erst die Pandemie, nun der Krieg.
283 Millionen Afrikaner hatten schon vor dem Konflikt nicht ausreichend zu essen, so die Vereinten Nationen. Es könnten nun noch viel mehr werden. Fast alle Länder Afrikas beziehen Weizen aus der europäischen Krisenregion, 18 Länder sogar mehr als die Hälfte ihres Bedarfs. In Ostafrika sind es sogar 90 Prozent. Gerade diese Region ist aber – nach langer Trockenheit und Heuschreckenplagen – ohnehin schon am Ende ihrer Kräfte. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht, damit auch kein Ende der Preisspirale.
Weizen ist Grundnahrungsmittel der Menschen. Die Produktion von Weizen ist aber sehr ungleich auf der Erde verteilt. Etwa 85% der weltweiten Produktion stammen derzeit aus etwa 10 Ländern und Regionen, u.a. aus den USA, Russland, der EU und China. Fast alle diese Regionen liegen auf der nördlichen Erdhalbkugel. Als Folge dieses Nord-Süd-Gefälles liegt Weizen im Zentrum bedeutender weltmarktpolitischer Kräfteverhältnisse und strategischer Überlegungen. Die Herrschaft über den Weizenanbau ist in den Medien weniger präsent als die Kontrolle über das Erdöl, aber nicht minder wichtig.
Dazu genügt auch ein Blick in die Geschichte: 1. Zu den Eroberungskriegen Hitlerdeutschlands gehörten auch Gebiete, die die Bevölkerung und vor allem die Soldaten ernähren können sollten. Beim Unternehmen Barbarossa 1941, den Überfall auf die Sowjetunion, hatte es Hitler nicht nur auf Moskau, sondern ebenso auf Rohstoffvorkommen abgesehen, und zwar auf riesige Kohlevorkommen im Donez Becken und vor allem auf die Ukrainer und ihr Getreide. 2. Nach 1945 hatten sich die USA zu einem äußert fruchtbaren Agrarland entwickelt, das begann, seine Weizenüberschüsse zu exportieren. Man war sich in Washington bewusst, dass der Weizenexport den US-Interessen im nun zunehmenden Ost-West-Konflikt dienen konnte. Die USA benutzen die Lebensmittelhilfe, um die sowjetische Expansion einzudämmen. Den gesamten kalten Krieg über ging der Weizenexport der USA einher mit der Einrichtung militärischer Stützpunkte, von Südasien bis zum Nahen Osten, aber auch in Europa wo die Lebensmittelhilfe des Marshall-Plans dazu beitrug, den Zusammenhalt der Bündnispartner der USA zu stärken. Das war so erfolgreich, dass Europa seinerseits wieder eine Agrarmacht wurde. Am Jahr 2022 sind in der EU Frankreich und Deutschland die beiden wichtigsten Weizenproduzenten. Nur wurde sowohl die EU ebenso wie die USA inzwischen von Russland überholt. Innerhalb von weniger als 20 Jahren konnte Russland zum weltweit größten Importeur von Weizen aufsteigen. Wladimir Putin plante sogar eine Art Getreide-OPEC mit den Nachbarstaaten Ukraine und Kasachstan zu gründen, denn die drei Länder zusammen machen 20% der weltweiten Weizenexporte aus. Russland exportiert u.a. nach Ägypten, Libyen, in die Türkei, in den Iran und nach Syrien.
So eilte Wladimir Putin 2016 Bashar al Assad zur Hilfe, indem er ihm nicht nur Luftunterstützung, sondern auch Weizen zukommen ließ. Damit sollte die Belieferung von Brot für die Bevölkerung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten gewährleistet werden. Bei den Berichterstattungen über den Bürgerkrieg bleibt ein Aspekt häufig unerwähnt. Die Kontrolle über die Anbauflächen, aber sie war mitentscheidend beim Vormarsch der IS Miliz, der große Anbaugebiete im Südosten Syrien und im Norden des Irak erobern konnte. 2015 brachte er der Terrororganisation 200 Mio. Dollar ein, 12% ihres Haushalts. Noch wichtiger war nur Erdöl, das 25% ihrer Einnahmen ausmachte.
Mit einer jährlichen Einfuhrmenge von 30 Mio. Tonnen, ist Nordafrika die Region, die weltweit am meisten Weizen importiert. Dort gibt es nur wenig Wasser und kaum Anbauflächen und die gesamte Region ist geprägt von einem hohen Bevölkerungswachstum. 139 Mio. 1961 auf nun mehr 500 Mio. Der Nahrungsmittelbedarf hat sich dort seit den 60er Jahren versechsfacht. Deshalb kann in den arabischen Ländern Weizen Revolten auslösen, wenn es an ihm mangelt oder wenn sein Preis in die Höhe schießt. Das war z.B. beim arabischen Frühling 2011 auch der Fall. Inzwischen importieren die Länder der Region in erster Linie Weizen aus Russland. In Algerien findet ein Tauziehen zwischen Frankreich und Russland statt. Frankreichs Marktanteil sinkt dort immer mehr zu Gunsten des russischen. Von 5,6 Mio. Tonnen 2019 auf 1,8 Mio. Tonnen 2020. Ein Rückgang von über 60 Prozent. Durch die Diversifizierung ihrer Importpartner möchte man in Algier unabhängiger von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich werden.
Nicht unerwähnt bleiben sollte China. Das Land ist mit 130 Mio. Tonnen pro Jahr bei weitem der größte Weizenproduzent der Welt. Eine vollständige Selbstversorgung scheint jedoch noch schwierig zu verwirklichen, auch weil durch die Annäherung der Essgewohnheiten der chinesischen Bevölkerung, an die des Westens der Verzehr von Weizen immer mehr zunimmt. Deshalb importiert China Weizen aus Kanada, aus der EU, aus der Ukraine und Russland. Insgesamt führte es 2021 10 Mio. Tonnen Weizen ein.
Die Lösungsvorschläge von Finanzkapitalisten und ihren Politikern für die Eskalation des Weltmachtwettstreits in der Ukraine jedoch belegen ein weiteres Mal die Verachtung der Armen. Trotz drohender Hungersnot, kein Drängen auf Beendigung des Krieges, kein Ruf nach Friedensgesprächen und der Beendigung der Sanktionen. Weltbank-Präsident David Malpass weist in der BBC darauf hin, dass 60 Prozent der ärmsten Länder schon vor dem Krieg wegen der Pandemie überschuldet seien. Subventionierung oder Preisdeckelung für teure Lebensmittel schon deshalb nicht die Lösung seien. Stattdessen müsse die Produktion von Nahrungsmitteln angekurbelt werden, auch durch stärkeren Einsatz von Düngemitteln. Das dürfte aber auch aus kapitalistischer wirtschaftsperspektive keine Lösung sein: 22 Länder Afrikas beziehen ihre Düngemittel ebenfalls aus der Schwarzmeer-Region. Die Preise für Düngemittel haben sich im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt. Auch Welternährungsorganisationen wie das World Food Programme haben es viel schwieriger, wenn sie mit dem vorhandenen Geld weniger Lebensmittel kaufen können, aber auch die Transportkosten mit den extrem hohen Ölpreisen viel schwieriger werden und so weniger Menschen versorgt werden können.