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Zur Entwicklung des Wahlrechts in Deutschland

Dilan Baran

2024 findet die zehnte Direktwahl des EU Parlaments statt. Das EU-Parlament wird alle fünf Jahre neu gewählt. Die Anzahl der Sitze im Parlament ist nach der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten verteilt. Wahlberechtigt und wählbar ist jeder Bürger der Europäischen Union, unabhängig von seinem Wohnsitz.

In der Europäischen Union dürfen zudem alle EU-Bürger an den Kommunalwahlen ihres Hauptwohnsitzes teilnehmen, unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat dieser sich befindet. Dieses Recht wurde 1992 im Vertrag von Maastricht eingeführt.

Solch eine oder ähnliche Regelungen gelten auch in anderen Staaten innerhalb eines Staatenbundes wie der EU oder das Commonwealth. Sie verfolgen u.a. das Interesse, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken um sich so gewisse Wettbewerbsvorteile und Marktstärke zu verschaffen.

Doch genau im Zusammenhang  damit hat Deutschland eines der schärfsten Gesetze weltweit, wenn es um das Wahlrecht von nicht Staatsangehörigen geht.

Wer darf den Bundestag wählen?

Wahlberechtigt bei einer Bundestagswahl ist, wer eine deutsche Staatsbürgerschaft hat, spätestens am Wahltag volljährig ist und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Zu Letzteren gehören zum Beispiel schuldunfähige Straftäter, die in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden. Mit Hürden bei der Ausübung ihres Wahlrechts sind zudem obdachlose Menschen konfrontiert, weil sie häufig nicht im Wäh le rver zeich nis eingetragen sind und deswegen keinen Wahlschein erhalten.

Was heißt das in Zahlen?

Von 83,1 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, dürfen laut Bundeswahlleiter rund 60,4 Millionen wählen. Fast 10 Millionen Erwachsene ohne deutschen Pass dürfen bei der Bundestagswahl nicht mit wählen. Einige von ihnen leben seit 10, 20, 30 Jahren in Deutschland, sind gar hier geboren.

12,6% der erwachsenen Bevölkerung, etwa jede achte volljährige Person, hat laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. In Berlin ist es sogar jeder 3. Einwohner.

Warum nicht einfach einbürgern?

Den dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen ohne deutschen Pass wird nahegelegt, sie sollten die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen und damit alle politischen Rechte erhalten. Dabei wird ausgeblendet, dass der deutsche Pass nicht ohne Weiteres zu bekommen ist. So müssen die Betroffenen zunächst für mindestens sieben (stimmlose) Jahre in Deutschland wohnen, um eine deutsche Staatsbürgerschaft beantragen zu können. Darüber hinaus spielt vor allem die Einkommenssituation der Bewerber/innen eine zentrale Rolle. Wer kein lückenloses Einkommen nachweisen kann, hat schlechte Chancen. Somit hängt das Wahlrecht vom Geldbeutel ab.

Daran ändert auch das neue Einwanderungsgesetz der grün-rot-gelben Koalition nichts, dass die Einbürgerung nur selektiv für ausgebildete Fachkräfte erleichtern wird. Ein Paradebeispiel dafür, wie die Bundesregierung Einwanderungspolitik unter Aspekten von ökonomischer Verwertbarkeit anpasst. Daraus macht sie allerdings auch kein Geheimnis. Auf der Homepage der Bundesregierung steht: „Deutschland“ braucht qualifizierte Einwanderung, damit die Unternehmen ihre Fachkräftebasis sichern und erweitern können“. Es wird kaum diskutiert, dass diese Lohnabhängigen im Herkunftsland eine Lücke hinterlassen  – geschweige denn, warum sich hierzulande eigentlich nicht genug Arbeitskräfte für diese Bereiche finden.

Aber zurück zur Einbürgerung und dem Wahlrecht.

In Deutschlands Behörden fehlt es an Personal, der Prozess zur Einbürgerung dauert in der Regel also sehr lange. Für einen Ersttermin wartet man durchschnittlich ein Jahr. Ein häufiges Problem ist auch, dass die ausländischen Dokumente für die vorgeschriebenen Vorlagen oft nicht anerkannt werden. Die Vereinfachung der Einbürgerung (für alle!) spielt eine wichtige Rolle bei der Forderung nach dem Wahlrecht für alle, ersetzt diese aber nicht, denn in Deutschland ist zudem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht erlaubt. Das birgt weitere Probleme. Zum Beispiel:

Um die türkische Staatsbürgerschaft abzugeben müssen Männer die Wehrpflicht ableisten und 5-10.000€ zahlen. Die Summe legt der türkische Staat regelmäßig und strategisch fest. Hier geht es um Leib und Geld. Wer seine russische Staatsbürgerschaft aufgibt, braucht danach ein Visum zur Einreise nach Russland und kann dann nur noch erschwert Freunde und Familie besuchen. Ein Hindernis.

Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, die wählen dürfen und das auch tun, steigt hingegen seit Jahren an. Ein Grund dafür ist eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2000. Bis dahin galt ausschließlich das „Abstammungsprinzip“: Demnach war nur „Deutscher“, wer auch deutsche Eltern hatte. Mit der Gesetzesreform im Jahr 2000 wurde das „Geburtsortsprinzip“ eingeführt. Seitdem können auch Kinder, deren Eltern eine ausländische Staatsbürgerschaft haben, die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wenn sie volljährig werden und sich dazu entscheiden. Das führt dazu, dass in Deutschland geborene, inzwischen erwachsene Kinder von Zuwanderern wahlberechtigt sind.

Zur Geschichte des Wahlrechts

In Deutschland war es ein weiter Weg, bis das Wahlrecht soweit durchgesetzt war, wie es heute besteht. Mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 wurde für die Wahlen zum Reichstag das allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime aktive und passive Wahlrecht für jeden „Norddeutschen“ über 25 Jahre eingeführt. Ehemals, in den Zeiten des vormärzlichen Absolutismus, hieß es gewöhnlich von dem ganzen arbeitenden Volke, es sei »noch nicht reif« zur Ausübung politischer Rechte.

Aber auch im Deutschen Reich galt noch bis Ende des Kaiserreiches 1918 das Dreiklassenwahlrecht.

Mit der Novemberrevolution wurde nicht nur die Monarchie, sondern auch das Dreiklassenwahlrecht abgeschafft. Zudem wurde mit ihr der Kampf um das Frauenwahlrecht erfolgreich beendet. Am 19. Januar 1919 durften die Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen und gewählt werden.

Am 18. Juni 1970, nach turbulenten Zeiten einer rebellierenden 68`er Studierendenbewegung gegen Krieg und Notstandsgesetze beschloss der Bundestag eine Grundgesetzänderung zur Absenkung des Wahlalters auf 18 Jahre.

Seit 1972, nach Jahren Kampfbereitschaft und solidarischem Einsatz in Arbeitskämpfen, dürfen Arbeiter auch ohne deutschen Pass zumindest an Betriebsratswahlen mitwählen und sich wählen lassen.

Seit 1992 dürfen EU-Bürger, das heißt jeder, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedslandes der Europäischen Union besitzt, an Kommunalwahlen teilnehmen.

In 2021 durften das erste Mal Menschen mit Behinderung mitwählen, auch wenn sie in allen Angelegenheiten rechtlich betreut werden. Sie waren bis 2019 noch ausgeschlossen.

Die stückweise Fortentwicklung des Wahlrechts war immer Ergebnis von Massenerhebungen und gesellschaftlichen Kämpfen.

Das arbeitende Volk musste seine Reife zur politischen Freiheit jedes Mal einfordern.

Für die Einführung des Wahlrechts für alle, auch ohne deutschen Pass wird deshalb auch die Selbstorganisierung der Betroffenen und die dabei stattfindende Selbstermächtigung entscheidend sein.

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