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Warum erhält die AKP in Deutschland mehr Stimmen?

Yücel Özdemir Wir sprachen mit Dr. İnci Öykü-Yener Rodeburg, Dozentin an der Universität Essen, über die Wahlen in der Türkei, die Wahlpräferenzen von Migranten und die Einflüsse auf diese Präferenzen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Wahlverhalten von Migranten. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür, dass die AKP und Erdoğan im Ausland generell mehr Stimmen erhalten als im Durchschnitt der Türkei? Wenn wir alle Länder im Ausland betrachten, sehen wir im Allgemeinen, dass die oppositionelle „Nationale Allianz“ oder Kılıçdaroğlu in mehr Ländern hohe Stimmenanteile erhalten haben. Betrachtet man jedoch die Anzahl der Stimmen und die Quoten, so sind Länder, wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Österreich und Belgien auch die Länder, in denen Erdoğan die meisten Stimmen erhielt. Die allein in Deutschland und Frankreich abgegebenen Stimmen entsprechen 60 Prozent der Gesamtstimmen. 50 Prozent in Deutschland und 11 Prozent in Frankreich. Nimmt man Belgien, Österreich und die Niederlande hinzu, erreicht diese Quote bis zu 85 Prozent. Die in den westeuropäischen Ländern lebenden Türkeistämmigen sind seit den 1960er Jahren eingewandert. Mit der Familienzusammenführung, die in den 1970er Jahren begann, nahm die Bevölkerung rasch zu. Obwohl es unter den in Westeuropa lebenden Türkeistämmigen mehr politische Migranten, somit Oppositionelle, gibt, sind die „Gastarbeiter“ der 1960er Jahre und ihre Nachkommen die größte Gruppe. Die Zahl der politischen Flüchtlinge hat diese Gruppe nie überschritten. Spielt bei diesem hohen Stimmenanteil auch die Tatsache eine Rolle, dass sie stärker über Moscheen und Gemeinden organisiert ist? Natürlich spielt sie das. Wenn wir uns die Länder ansehen, in denen die AKP die meisten Stimmen erhalten hat, spielt die in den 1980er Jahren gegründete DITIB eine sehr große Rolle. Die in der Özal-Ära gegründete DITIB und die ihr angeschlossenen Moscheen sind das größte Instrument des türkischen Staates im Ausland. Es gibt knapp 1000 Moscheen und Vereine in Deutschland, 250 in Frankreich und 70 in Belgien. Jede Moschee und jeder Verein wird von einem Imam geleitet, der ein Beamter der Direktion für religiöse Angelegenheiten in der Türkei ist. Die DITIB handelt im Allgemeinen im Sinne der Machthaber. Nicht die AKP hat diese Vereine gegründet. Allerdings hat die AKP sie viel effizienter eingesetzt, als andere. Die Moscheegemeinden sind auch mit politischen Gemeinden in der Türkei verbunden. DITIB behauptet, allein in Deutschland 800.000 Menschen zu erreichen. Insgesamt leben ca. 3,2 Millionen Türkeistämmige in Deutschland. Es muss auch gesagt werden: Die DITIB ist nicht nur eine Glaubensorganisation. Sie hat sich im Laufe der Jahre so positioniert, dass sie sich einer breiten Palette von Themen und Bereichen angenommen hat, von Deutschkursen bis zur Familienplanung. Dazu hat auch die verfehlte Einwanderungspolitik Deutschlands beigetragen. DITIB war die einzige Organisation, die das Fehlen eines sozialen Umfeldes ausglich. Bei einer Analyse nach Städten und Regionen in Deutschland liegen die Stimmen für Erdoğan und die AKP in einigen Orten deutlich über dem Durchschnitt. Essen und Düsseldorf sind in dieser Hinsicht besonders auffällig. Warum? Essen ist nicht nur die Region mit der höchsten Stimmenzahl, sondern auch die Region mit den meisten Stimmen. Düsseldorf, Köln und Münster sind ebenfalls wichtig. Diese Konsularbezirke liegen in Nordrhein-Westfalen, wo die meisten türkeistämmigen Einwanderer leben. Ich habe den Wahlkampf in Essen aufmerksam verfolgt: Vor allen DITIB-Moscheen wurden Doppeldeckerbusse und Kleinbusse organisiert. Die meisten Wählerinnen und Wähler in Essen sind Kinder oder Enkelkinder derer, die zur Arbeit in die Zechen gekommen sind. Ich möchte ein wenig vorsichtig sein, was die Möglichkeit eines politischen Meinungswechsels aufgrund des Generationswechsels angeht, denn es gibt in dieser Region eine Situation, die sich ständig erneuert. Bräute oder Schwiegersöhne, die aus der Türkei kommen und die engen Beziehungen zur Türkei übertragen die politische Interaktion auf die Generationen. Aus diesem Grund ist es notwendig, vorsichtig zu sein und nicht zu sagen, dass sich die Präferenzen für Gruppen mit konservativen Strukturen je nach Generation ändern werden. Als ich die Wählergruppen zum ersten Mal bei der Stimmabgabe beobachtete, konnte ich persönlich feststellen, dass es mehr konservative Wähler gab, die für die AKP stimmten. Auch hier hat man sich in Städten, wie Herne, Gelsenkirchen und Recklinghausen besonders bemüht, die Wähler in den Ghetto-Gebieten mitzunehmen. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass die CHP im Ausland sehr schwach organisiert ist. Spielen die Probleme, mit denen sie in ihren Heimatländern konfrontiert sind, eine Rolle bei ihrer Wahlentscheidung für Erdoğan und die AKP? Wie ist es zu erklären, dass junge Menschen, für Erdoğan und die AKP stimmen? Die DITIB füllt viele Lücken. Die von Ihnen erwähnten jungen Menschen sind in dieser Gruppe geboren, aufgewachsen und verheiratet. Deshalb können die jungen Leute nicht oder nur schwer aus dieser Gruppe aussteigen. Wenn ich mit meinen türkeistämmigen Studierenden an der Universität spreche, sehen sich die meisten von ihnen eher als Türken denn als Deutsche. Dies ist nicht nur ein Problem für die Anhänger der AKP, sondern für die gesamte Diaspora. Die Diskriminierung, der sie alle in ihren Heimatländern ausgesetzt sind, unterscheidet sich nicht voneinander. Das Problem ist nur: Während Kurden und Aleviten in Deutschland stärker in das System eingebunden sind und sich mehr anpassen, leben die Nationalkonservativen eher introvertiert. Während Kurden und Aleviten keine Probleme haben, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, sind andere Gruppen vorsichtiger. All dies wirkt sich auf das Wahlverhalten in der Türkei aus.
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