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Weiblich krank und männlich krank?!

Hazal Yildirim

Gendern wir jetzt auch in der Medizin? Zu Recht! Hier geht es nicht um die Stellung in der Gesellschaft, sondern um die Gesundheit. Mal ganz zu schweigen davon, dass einige Frauen in der Menstruation auch als „krank“ bezeichnet werden, geht es im Folgenden um tatsächliche gesundheitliche Probleme.

Neben den allbekannten Geschlechtshormonen Testosteron und Östrogen gibt es tatsächlich unzählige weitere Hormone, Abläufe, Enzyme (Werkzeuge, die zum Ab- oder Aufbau von Stoffen nötig sind), die bei Mann und Frau vollkommen unterschiedlich sind. Das Immunsystem, die Abwehrkörper, sogar Verdauungsenzyme sind anders. Unsere Körper produzieren entsprechend unserer Bedürfnisse und Funktionsweisen auch verschiedene Stoffe und in ihrem eigenen Tempo.

Auch das Immunsystem ist unterschiedlich, da beispielsweise das Hormon Testosteron Immunreaktionen im Körper hemmt, was dazu führt, dass Männer häufiger und härter von Krankheiten betroffen sind, als Frauen. Weibliche Körper neigen widerrum eher dazu, eigene Körperzellen anzugreifen, daher leiden sie häufiger an Allergien.

SOGAR MEDIZIN IST AUF MANN AUSGERICHTET!

Jahrhunderte lang predigt die patriarchale Gesellschaft, dass Mann und Frau doch so anders seien. Zu Gunsten der Männer, wenn es zum Beispiel um Lohn oder soziale Rolle geht; doch haben sich wenige Gedanken gemacht, welche Auswirkungen das denn medizinisch betrachtet haben könnte?Erst vor weniger als 20 Jahren haben sich Forscher die Frage gestellt, ob Medikamente denn nicht anders wirken würden, wenn die Abbauenzyme und Aufnahme ins Blut bei beiden Geschlechtern anders ist. Im Jahr 2002 wurde im Fachmagazin „New England Journal of Medicine“ eine Studie zu genau dieser Frage publiziert. Es ging um ein beliebtes und bei den Ärzten begehrtes Herzmedikament, dessen Wirkung bei Mann und Frau getrennt beobachtet wurde. Nach einem Jahr gab es bei den Männern deutlich weniger Krankenhausaufenthalte. So sollte es sein, das Medikament hält, was es verspricht. Für den Mann. Die Frauen, die das Mittel nahmen starben früher als Erkrankte, die es nicht nahmen.

Jetzt nehmen wir uns mal einen Moment und spekulieren, wie viele Frauen wegen genau diesem gravierenden Fehler ums Leben gekommen sind. Weil sie Medikamente nahmen, die als geschlechterunspezifisch verkauft wurden, jedoch für den männlichen Körper von Nutzen, für den weiblichen oftmals Gift waren. Wundern wir uns nicht, denn die Probanden für medizinische Zwecke sind nahezu immer männlich. Selbst Tierversuche werden zu mehr als 95% an männlichen Ratten oder Affen durchgeführt. Einfache Begründung: Sie sind leider günstiger und haben keine menstruationsbedingten Hormonschwankungen.

ROLLE DER PHARMAINDUSTRIE

Nichtdestotrotz ändert sich nicht das Geringste in der Pharmaindustrie. Oder habt ihr schon in der Apotheke Aspirin for men/women gesehen? Es ist ein Grundrecht medizinisch versorgt zu werden. Und das selbstverständlich mit den richtigen Medikamenten. Wenn mindestens seit 20 Jahren amtlich bekannt ist, dass Männer und Frauen verschiedene Behandlungen benötigen und Krankheiten bei Männern und Frauen unterschiedlich verlaufen, dann ist es uns ein Rätsel, warum das unter den Tisch gekehrt wird.

Aus dem Interview zwischen der Tagesschau und Medizinjournalistin Daniela Remus vom März dieses Jahres sticht die Antwort auf die Frage, wie die Erkenntnisse bei Forschern, Ärzten und der Pharmaindustrie akzeptiert wären, ins Auge: „Das ist sehr unterschiedlich. Aber die Forschung macht sich auf den Weg. Es gibt zum Beispiel Vereinbarungen, dass man sagt: Wenn Arzneimittel getestet werden, dann muss auf jeden Fall festgehalten werden, ob man männliche oder weibliche Teilnehmer testet und was das für Konsequenzen hat, weil das nicht immer in einen Topf zu werfen ist.“

„MANN IST NICHT GLEICH FRAU“

Immerhin, die Deutsche Apotheker Zeitung hat 2013 einen Artikel dazu geschrieben: „Mann ist nicht gleich Frau“. Darin wurde festgehalten, dass Frauen eher an unerwünschten Nebenwirkungen leiden als Männer. Dies hat natürlich einen erheblichen Einfluss auf die Zahlen und Statistiken. Vor allem wenn die Medikamente auch geschlechterspezifische Verkaufszahlen haben. Schilddrüsentherapeutika, Osteoporosemittel und Mineralstoffe werden wesentlich häufiger an Frauen verschrieben, Blutfettsenker und Antithrombosemittel viel häufiger an Männer. Nach diesen Erkenntnissen weiterhin genderlose Beipackzettel zu erstellen, oder das Geschlecht bei der Verschreibung von Medikamenten zu ignorieren, lässt die Intention der Pharmaindustrie und Medizinbranche in Frage stellen.

4-HT3-Antagonist Alosetron, ein in den USA hergestelltes Darmirritation Medikament wirkt beispielsweise ausschließlich bei Frauen, da sie den entsprechenden Erkennungsstoff für den Wirkstoff produzieren. Männer nicht. Dahingegen wirken nicht-Opioide Analgetika wie Ibuprofen bei Männern besser als bei Frauen, weshalb Frauen oft eine höhere Dosis nehmen (müssten). Es wird (getan, als würde) daran gearbeitet (werden). Auf einigen wenigen Beipackzetteln kann man heutzutage Dosierungsunterschiede zwischen Mann und Frau finden, und nicht nur zwischen Kind, Jugendlicher (ab 14) und Erwachsener. Doch alte Wirkstoffe, wie ACC, Paracetamol oder Ibuprofen werden weder erneut überprüft, noch werden ihre Zettel korrigiert und umgeschrieben. Deutschland, und viele andere europäische Länder, erkennen die Konsequenzen dieses folgenschweren Problems nicht. Bei einem selbst in den USA veränderten Medikament für Schlafstörungen entschied sich die europäische Zulassungsbehörde gegen eine solche Maßnahme, da diese nicht als notwendig gesehen wurde. Ein jahrelang vermarktetes und bekanntes Medikament mit Falschinformationen zu beschuldigen oder gar zu ändern möchten die Großkonzerne der Pharmaindustrie nicht riskieren.

FÜR EINE AUF DEN INDIVIDUELLEN KÖRPER AUSGERICHTETE MEDIZIN

Adam Smith lügt um die Ecke.

Denn anders betrachtet würden spezifische Medikamente für wesentlich teurer verkauft werden. Obwohl diese, wie bereits oben erwähnt, ein Teil des grundgesetzlichen Anspruchs auf gesundheitliche Versorgung ist. Mit dem Argument, dass bereits ein Wirkstoff auf dem Markt ist, welches „geschlechtsneutral“ sein soll, es aber keine zeitnahe, seriöse Prüfung dessen gibt, wird man aber kaum debattieren können. Daher lassen es die meisten Hersteller und Konzerne ganz sein und verkaufen weiterhin jene, die für den männlichen Körper konzipiert wurden, um keine Verluste zu machen. Selbst die Deutsche Apotheker Zeitung schreibt: „Eine stärker zielgruppenorientierte Therapie vermindert nicht nur die Arzneimittelrisiken, sondern würde auch die knappen Ressourcen des Gesundheitssystems schonen.“ Daher hat die Pharma- und Medizinforschung noch einen sehr langen Weg.

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