Eren Gültekin
Wir hatte die Möglichkeit mit Orry Mittenmayer ein kurzes Gespräch zu führen. Dabei ging es vor allem um gewerkschaftliches Engagement sowie die Entstehung der Kampagne „Liefern am Limit“, dessen Co-Mitbegründer Orry ist. Bei der Kampagne geht es um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Lieferservicedienst „Lieferando“ vor allem im Hinblick auf die Pandemie-Zeit.
Wieso gewerkschaftliches Engagement?
Ich bin tatsächlich nicht so lange bei der Gewerkschaft. Ich mache viel auf ehrenamtlicher Basis und das ganze hat tatsächlich vor 3 oder 4 Jahren angefangen, da war ich noch beim Fahrradkurier bei Deliveroo (seit August 2019 in Deutschland Tätigkeit eingestellt) und habe Essen ausgeliefert. Wir haben keine gute Bezahlung bekommen, meistens wurden die Gehälter gar nicht oder unvollständig ausgezahlt, wir hatten keine Mitbestimmungsmöglichkeiten, wir hatten nur befristete Verträge von 6 Monaten, Fahrräder und das Handy sollten wir selbst bezahlen und das mit dem Mindestlohn. Es war für mich eine schwere Zeit und ich war ziemlich verzweifelt, wie viele andere auch. Wir waren kurz davor aufzugeben, bis ein Kollege meinte, dass es eine Gewerkschaft gebe. Wir wussten gar nicht, was Gewerkschaften sind, warum es sie gibt und wir gingen zur Gewerkschaft, um es uns einfach mal anzuschauen. Die Gewerkschaft NGG, Nahrung, Genuss und Gaststätten, nahm uns auf, bildete uns fort und eins nach dem anderen entwickelte sich. Wir haben uns organisiert und gründeten einen Betriebsrat. Ich war für einige Zeit Vorsitzender des 1. Betriebsrat bei Deliveroo und seitdem mach ich nichts anderes, als basisgewerkschaftliche Arbeit und setzte mich dafür ein.
Wie hat der Arbeitgeber das aufgenommen als es plötzlich Betriebsräte gab?
In der Bevölkerung werden Betriebsräte sehr positiv wahrgenommen und sind auch sehr beliebt. Wenn es aber tatsächlich darum geht, einen Betriebsrat in einem Unternehmen wie Deliveroo zu installieren, dann ist Krieg. Ab dem Tag, an dem sich fast 80 % der Belegschaft für einen Betriebsrat ausgesprochen haben, hat Deliveroo von heute auf morgen alle befristeten Verträge in Freelancer Verträge umgewandelt. Dadurch haben Angestellte gar keine Rechte, keine Ansprüche und keine demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten mehr. Deliveroo wollte uns somit spalten und zerschlagen. Und sie haben unsere Verträge auch nicht entfristet, obwohl wir auch gerichtlich vorgegangen sind. Betriebsräte sind auf der einen Seite vor Kündigungen geschützt, aber auf der anderen Seite nicht vor auslaufenden Verträgen. Deswegen kämpfen wir auch dafür, dass Betriebsräte vor Entfristungen geschützt sind.
Du bist einer der Co-Mitbegründer der Kampagne „Liefern am Limit“. Kannst du uns zu dem Projekt mehr erzählen, was steckt dahinter?
Die „Liefern am Limit“ Kampagne startete vor fast 3 Jahren als Reaktion auf die Haltung von Deliveroo. Damals hatte die Öffentlichkeit keine Kenntnis von unserem Arbeitskampf, Wir wussten, dass das ein sehr einsamer und dunkler Kampf war. Zunächst haben wir uns angeschaut, wie denn die Unternehmen arbeiten: Sie betreiben viel Marketing und benutzen viel Social Media. Wir haben uns gesagt, dass wir das besser können, als die und über mehr und bessere Ressourcen verfügen. Wir haben dann versucht, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Wir haben eine Plattform gegründet, ursprünglich nur mit der Absicht, die Aufmerksamkeit auf Deliveroo zu lenken. Das ist aber im positiven Sinne nach hinten losgegangen: Wir bekamen viel Solidarität und Zuspruch aus der Öffentlichkeit und so ein starkes Presse-Echo, dass wir gesagt haben: „OK, wir machen es für alle Lieferdienste, wir machen es für Foodora, Lieferando, takeaway usw“. Wir wollten jedem eine anonyme Plattform bieten, der über seine Arbeitssituation und -verhältnisse berichten wollte und für alle Kuriere und Lieferanten, die Probleme haben, aber vor Angst vor Repressalien von ihren Arbeitgebern nicht offen darüber sprechen können, eine Anlaufstelle anbieten. Seitdem berichten wir regelmäßig über Arbeitsbedingungen und Zwischenfälle und versuchen die Aufmerksamkeit ein bisschen zu fokussieren, sind aber auch gleichzeitig eine Art Beratungsplattform für Kuriere, die sich für demokratische Mitbestimmung einsetzen wollen, die vielleicht Tipps haben wollen, wie man so einen dezentralisierten Arbeitsplatz besser machen kann. Unsere Plattform soll organisieren, aber auch beraten und zur Seite stehen und dann gemeinsam mit der Gewerkschaft NGG sich aktiv für die Kolleginnen und Kollegen einsetzen.
Stichwort Solidarität: wie sieht es zurzeit in der Pandemie aus und sind die Kuriere gut geschützt?
Im Frühjahr hat Lieferando ganz klar gelogen. Sie haben eine öffentliche Pressemitteilung herausgegeben und erklärt, dass die Fahrradkuriere alle geschützt werden und Desinfektionsmittel und Masken bekommen, aber intern sah es komplett anders aus. Die Betriebsräte waren empört und haben sich an uns gewandt. Wir haben dann gemeinsam überlegt und wir haben eine Petition auf Change.org gestartet. Mittlerweile haben 11 tausend Menschen unterschrieben und die Petition ist weiterhin aktiv. Jeder kann es gerne unterschreiben und uns unterstützen. Lieferando kümmert sich nicht um die Rider, die BetriebsrätInnen beklagen weiterhin, dass sie viel zu oft nicht ernst genommen werden, dass Lieferando sich viel zu oft nicht an die Vorschläge und Abmachungen mit dem Betriebsrat hält, was Arbeitsschutz betrifft. Vieles wird einfach ignoriert. Wenn man sich anschaut, wer die Lieferanten meistens sind, dann sehen wir, dass viele Migranten und marginalisierte Communities in diesem Sektor arbeiten. Viele sind arbeitslos oder müssen mit einem Zweitjob „aufstocken“, sie brauchen diesen Job unbedingt und Unternehmen wie Lieferando nutzen das gnadenlos aus und zwingen diese in solche prekäre Verhältnisse. Die Lieferanten haben oft keine andere Wahl, als mit dieser Situation klar zu kommen, auszuliefern und das kann zum Teil auch solche Ausmaße annehmen, dass sie ausliefern, selbst wenn sie erkrankt sind, weil sie halt das Geld brauchen. Sie brauchen unsere Unterstützung und eine stärkere Solidarität und ein stärkeres Klassenbewusstsein auch mit Blick auf die ganze Branche.