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Žižeks historischer Moment und absurder Kommunismus

Arif KOŞAR

Was Žižek Anfang Februar bezüglich Coronavirus-Pandemie von sich gegeben hatte, war so ambitioniert. Und zwar so sehr ambitioniert, dass er das Bedürfnis verspürte, sich in einem ausführlicheren Interview und weiteren Erklärungen dazu um eine Richtigstellung zu bemühen. Er distanzierte sich zwar nicht vom Gesagten. Aber als ein Popstar der Philosophie sah er sich gezwungen, Aufmerksamkeit zu erregen:

„Das Corona-Virus wird uns zwingen, einen neuen Kommunismus zu erfinden, der auf der Grundlage des Vertrauens in die Gesellschaft und Wissenschaft beruht.“*

Warum?

Denn das „Corona-Virus stört das problemlose Funktionieren der Weltmärkte, das Wachstum wird um ein 2 bis 3 Prozent schrumpfen. Ist all das nicht ein Zeichen dafür, dass wir die globale Wirtschaft nicht der Gnade von Marktmechanismen überlassen dürfen und neu organisieren müssen?“

Was Žižek von der Weltwirtschaft zu Ohren gekommen ist, ist richtig. Die Gesundheit und das Leben der Menschen und die „globale Wirtschaft“ als deren Grundlage dürfen nicht mehr der Gnade des Marktes überlassen werden. Es ist richtig, dass wir das brauchen. Das ist allerdings nicht deshalb richtig, weil die Weltmärkte bis jetzt nicht problemlos funktioniert hätten und erst heute einen Defekt hätten. Žižek weiter:

„Wir reden hier natürlich nicht vom Kommunismus alten Stils, sondern von einer Art globaler Organisation, die die Wirtschaft kontrollieren und regulieren sowie bei Bedarf die Souveränität der Nationalstaaten einschränken kann.“

Also vielleicht eine Art von UN-Regierung, die imstande wäre, in die Märkte zu intervenieren. Wie diese Organisation gewählt wird, von welchen Staaten oder Klassen sie geprägt ist, bleibt im Dunkeln: „Offen gesagt, weiß ich nicht, wie man das machen könnte. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt möglich ist. Aber es muss einen Weg geben, wenn die Zivilisation überleben soll.“ Er begründet dies wie folgt:

„Denn das, was man für unmöglich gehalten hat, passiert jetzt schon. So hat beispielsweise Boris Johnson am 24. März die vorübergehende Verstaatlichung der Eisenbahn verkündet. So etwas hätte sich nicht einmal Corbyn vorstellen können.“

Diese Erklärung von Žižek, die suggeriert hatte, Johnson sei gezwungen gewesen, defacto den Kommunismus anzuwenden, führte zu einer Debatte. Deshalb sah sich Žižek veranlasst, ausführlicher zu erklären, was er unter Kommunismus versteht:

„Wenn Tausende wegen Atemproblemen ins Krankenhaus eingeliefert werden, wird eine erheblich größere Anzahl von Beatmungsmaschinen benötigt und um diese zu beschaffen, sollte der Staat direkt eingreifen, so, wie er auch unter Kriegsbedingungen eingreift, wenn Tausende von Waffen benötigt werden, und er sollte sich auf die Zusammenarbeit mit anderen Staaten verlassen. Wie bei einer militärischen Kampagne sollten Informationen ausgetauscht und Pläne vollständig koordiniert werden: Das ist alles, was ich mit dem Kommunismus meine, der heute gebraucht wird.”

„Kommunistische Massnahmen“

In seinen Artikeln und Interviews betont Žižek richtigerweise, dass der Kapitalismus des freien Marktes angesichts der Coronavirus-Pandemie unzulänglich und die staatliche Intervention unumgänglich ist. Nach seiner Ansicht stellt die momentane Lage einen ersten Schritt zum Kommunismus dar, der „neu erfunden werden muss“.

Somit wird der Kommunismus als „Bezeichnung der Maßnahmen, die bereits bestehen, die zuvor erdacht und teilweise umgesetzt wurden“ verbreitet. Dieser Kommunismus ist also die von ihm vorgeschlagene „Vorstellung vom Kommunismus“. Wenn „der Staat zumindest die Produktion von nötigen Sachen wie Atemmasken, Testkits und Beatmungsgeräten reguliert, Hotels und andere Unterkünfte beschlagnahmt, die für das Überleben aller nicht erwerbstätigen Menschen nötigen Mindestbedingungen sichert und bei alledem eine viel aktivere Rolle übernimmt und die Marktmechanismen nicht berücksichtigt“, setzt er also nach Žižek ‚kommunistische‘ Maßnahmen um.

Offensichtlich versteht Žižek unter „kommunistischen Maßnahmen“ einige der Maßnahmen, die Staaten im Kampf gegen die Pandemie beschlossen haben.

Man muss vielleicht mit radikalen und teilweise interessanten Ideen aufwarten, um ein Popstar-Philosoph werden und bleiben zu können. Man muss allerdings unterstreichen, dass diese Ideen schon ziemlich absurd oder besser gesagt, mit Fehlern behaftet sind. Und zwar in mindestens dreierlei Hinsicht:

DER KAPITALISMUS DER TRÄUME

Erstens stützt sich diese Interpretation auf die Auffassung von einem idealisierten Kapitalismus, sie setzt diesen voraus: Es gibt keinen „Kapitalismus der völligen Konkurrenz“, bei dem es keine staatliche Intervention gäbe. In der realen Welt ‚reguliert‘ der Staat den Markt und interveniert in ihn, weil dies die Interessen des Kapitals oder der gesellschaftlichen Ordnung erfordern. Dies gilt nicht nur für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre, als er noch „sozialstaatlich“ agierte. Vielmehr gilt dies für die gesamte Geschichte des Kapitalismus, auch wenn die Dosis und Bedingungen zeitweise unterschiedlich waren. Selbst die alleinige Existenz des Menschen macht manche Ausnahmen am Markt erforderlich. So wird das Gesundheitswesen zumindest teilweise in fast allen Ländern staatlich gefördert, in manch anderen Ländern werden öffentliche Betriebe staatlich finanziert. Auch wenn es Unterschiede in den einzelnen Ländern gibt, existiert kein einziger Staat, in dem selbst er kein Wirtschaftsfaktor wäre. Die staatlichen Milliardenhilfspakete, die in der Krise von 2008 oder der aktuellen Corona-Krise zugunsten des Kapitals geschnürt wurden, sind weitere bekannte Beispiele dafür.

Zusammenfassend kann man sagen, dass staatliche Interventionen – und zwar nicht nur jene, die als Hilfe für das Kapital gestaltet sind, sondern auch jene, die infolge des Klassenkampfes erforderlich wurden – die unumgängliche Folge der kapitalistischen Verhältnisse sind. Solange die Grundstruktur auf der Produktion von Mehrwert und dessen Beschlagnahmung durch den Markt beruht, wird die Aufteilung der Gesellschaft in zwei Klassen immer wieder reproduziert. Das dürfte auch Žižek bekannt sein. Solange sich dieser Ausbeutungsmechanismus stark auf sämtlich gesellschaftlichen Verhältnisse auswirkt und es keine gesellschaftliche bzw. Klassenbewegung gibt, die diese Grundlage zu verändern versucht, solange stellen auch staatliche Interventionen wie die Produktion von „Masken und Testkits“, vorübergehende Verstaatlichung von Privatkliniken, zeitlich begrenzte staatliche Finanzhilfen an Privathaushalte keine „kommunistischen Maßnahmen“ dar. Vielmehr sind sie kapitalistische Maßnahmen, die die Stabilität der kapitalistischen gesellschaftlichen Reproduktion sichern sollen. Im Anschluss an die Krise von 1929 wurden weit mehr Maßnahmen getroffen, trotzdem kam niemandem die Idee, sie als Kommunismus zu bezeichnen.

WIEDERAUFKOMMEN GLOBALER HOFFNUNGEN

Zweitens begründet Žižek das Bedürfnis nach Kommunismus mit dem Bedarf an einer Koordination jenseits von Nationen: „Natürlich müssen die Staaten die globale Solidarität unterstützen. Was wir brauchen, ist aber mehr als die Zusammenarbeit. Diese Aktionen müssen unmittelbar koordiniert werden.“ Dafür braucht die Welt nach Žižek eine Art von Kommunismus „als globale Organisation, die imstande ist, die Wirtschaft zu kontrollieren und zu regulieren, zugleich die Herrschaft von Nationalstaaten einzuschränken.“

Sicherlich kann es eine internationale Koordination jenseits von Zusammenarbeit geben, ferner den Austausch von Informationen und Erfahrung, die Sicherung von Lieferketten im internationalen Produktionsnetzwerk und auch gegenseitige Hilfen. Die UN-Mitglieder können sich online treffen und zum „Schutze von Menschenleben“ den gemeinsamen Kampf gegen das Coronavirus beschließen. Was Žižek außer Acht lässt, ist die Antwort auf die Frage, von wem diese Länder angeführt, von welchen Klassen und Schichten sie regiert werden. Diese Antwort kennt auch Žižek nur zu gut.

Einerseits wünschen sich diese Staaten wirklich die Lösung der Krise und die Rückkehr zur „Normalität“. Andererseits zögern sie angesichts der radikalen und marktexternen Maßnahmen, die die Bekämpfung der Pandemie erfordert. Die Aussage Trumps, dass „wir die Quarantäne nicht unendlich halten können und irgendwann den Betrieb wieder aufnehmen müssen“, ist der Ausdruck dieses kapitalistischen Zwangs und Triebs.

Diese kapitalistischen Zwänge verhindern, dass die Zusammenarbeit jenseits von reibungslos laufen kann. Beispielsweise können die USA oder Deutschland nur deshalb Hilfen an ihre Bürger auszuzahlen, weil sie den Mehrwert im Rahmen des imperialistischen Ausbeutungsmechanismus aus den abhängigen Ländern nach Hause transferieren konnten.

Natürlich dürfen wir angesichts der Pandemie die Notwendigkeit einer internationalen Notwendigkeit nicht außer Acht lassen und müssen bei Bedarf sie auch einfordern. Dabei dürfen wir aber nicht einem abwegigen Optimismus verfallen und glauben, sie wäre der Weg zum Kommunismus.

SUBJEKTFREIE WÜNSCHE

Drittens ist der Kommunismus keine Gruppe von Maßnahmen oder Sammlung von verschiedenen Anwendungen. Nach Žižek ist es ohne Bedeutung, „wer diese Maßnahmen trifft, sondern die Maßnahmen selbst haben eine politische Bedeutung“. Wer hätte vor sechs Monaten sich vorstellen können, dass Boris Johnson British Airways vorübergehend vergesellschaften würde? Wer wäre auf die Idee gekommen, dass Trump Gesetze aus der Zeit des Kalten Krieges hervorholen würde, um Privatunternehmen kontrollieren zu können?”

Bei den staatlichen Interventionen, die unter Führung des britischen Premiers Boris Johnson oder US-Präsidenten Trump, ja sogar vom türkischen Präsidenten Erdoğan im Alleingang beschlossen wurden, handelt es sich also um kommunistische Maßnahmen, die angesichts der Unzulänglichkeiten des Marktes erforderlich wurden – auch wenn die Herren sich dessen nicht bewusst waren!

Dabei setzt der Kommunismus voraus, dass die Ausbeutungsverhältnisse zwischen den Klassen aufgelöst werden und dass das Privateigentum und die von ihm bedingten gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine kollektivwirtschaftliche und -politische Struktur ersetzt werden. Das Subjekt, das dazu imstande wäre, ist wohl nicht bei Trump, Johnson und Erdoğan zu finden, sondern eher bei den Arbeiter- und werktätigen Klassen, die Leidtragende dieser Ordnung sind.

NICHT EINMAL UTOPISCH

In den Ausführungen Žižeks stoßen wir auf vieles, was richtig ist und teilweise im Widerspruch zu  seinen früheren Aussagen stehen: „Ich sage nicht wie manche Menschen ‘Ja, jetzt ist die Gelegenheit für den Kommunismus‘. Was ich sagen möchte, ist, dass die Mächtigen selbst die Dringlichkeit erkennen und ein Verhalten an den Tag legen, was an den Gedanken eines primitiven Kommunismus erinnert. Und das ist höchst ironisch.“

Aber er belässt es nicht dabei und schießt über das Ziel hinaus. Während er sich zu korrigieren versucht, hält er an seinen früheren Argumenten fest.

Nach Žižek stellen diese Pandemie und ihre Folgen eine Zäsur dar, die symbolisch für den Verlust von Vertrauen in die bestehenden Machthaber und für die bevorstehenden unumgänglichen Veränderungen größten Ausmaßes stehen. Trotz dieser ambitionierten Behauptung muss man feststellen, dass die Massen nicht kurz davorstehen, sich angesichts der Pandemie politisch für „den Kapitalismus oder die Barbarei“ zu entscheiden. Vielleicht trifft die Feststellung zu, dass „die finanzielle Struktur des Kapitalismus“ zugrunde gehen wird. Trotzdem haben wir keine Anzeichen dafür, dass er sich nicht wieder erholen und das Niveau von 2015 erreichen wird. Es ist richtig, dass wir uns in Richtung einer schweren kapitalistischen Krise bewegen, was durch den Rückgang in der Produktion beschleunigt wird. Allerdings erfordert eine Gesellschaft jenseits vom Kapitalismus bzw. der „primitive Kommunismus“, wie Žižek sie nennt, die Existenz eines organisierten, destruktiven und zugleich konstruktiven Subjekts, dessen Formen sich unterscheiden können. Die historische Epoche, die wir gerade durchleben, kann man unter dem Motto „Sozialismus oder Barbarei“ beschreiben. Da ein solches Subjekt jedoch als eine organisierte Kraft noch nicht aufgetreten ist, ist es verfrüht, einen konkreten „Moment der Zäsur“ festzustellen. Objektive politische Optionen und die Übernahme einer politischen Option sind eben zwei Paar Schuhe.

Trotz dieser teilweise kuriosen Vorstellungen kann man von zwei positiven Beträgen Žižeks zur Debatte sprechen: Erstens machte die Pandemie deutlich, wie unzulänglich die kapitalistische Markt- und Staatsstruktur ist – und zwar nicht nur im Gesundheitsbereich. Darauf weist Žižek unermüdlich hin. Zweitens schaffte er es – wenn auf kuriose Weise – angesichts der Unzulänglichkeiten des Marktes den Kommunismus ins Spiel zu bringen.

Trotzdem muss meines Erachtens folgendes festgehalten werden: die sozialistischen Projekte im 19. waren nicht absurd, sondern eher utopisch. Žižeks Projekt ist aber nicht utopisch, sondern eher sehr absurd.

*Die Zitate im türkischen Original stammen aus verschiedenen Žižek-Artikeln auf der Homepage https://terrabayt.com

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