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Die Hufeisentheorie

Mirkan Doğan

Das neue Jahr begann mit einer Debatte über Linksextremismus. Der Verfassungsschutzpräsident des Landes Hamburg warnte vor einem Aufstieg von Linksextremen. Als Grund gab er die Ausschreitungen in der Silvesternacht zwischen der Polizei und der linken Szene im Leipziger Stadtteil Connewitz an. Aktuell laufen die Gerichtsverfahren zu den Ausschreitungen. Die Debatte setzte sich allerdings auch nach der Wahl von FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten fort. Dieser wurde mit Hilfe der AfD in das Amt gehoben und das ausgerechnet von der Thüringer AfD, deren Vorsitzender, Björn Höcke, gerichtlich ein Faschist genannt werden darf. Im Nachzug wurde von verschiedenen Politikern und Parteien hervorgehoben, dass man sich sowohl vom linken, als auch vom rechten Rand distanziere. Wie so oft, werden links und rechts auf eine Stufe gestellt. Diese Art von Berichterstattung ist aber weder zufällig, noch einmalig. Als im Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, mutmaßlich durch den Neonazi Stephan E., ermordet wurde, weil Lübcke eine humanistische Geflüchtetenpolitik forderte, wurde auch dieser Akt des rechten Terrors mit der RAF verglichen. Aber hat schon mal jemand daran gedacht, dass rechter Terror in Deutschland mit Abstand die meisten Toten gefordert hat seit der Wiedervereinigung und auf eine lange Geschichte zurückschaut, in der nicht mal annähernd alles vollständig aufgeklärt wurde?

“Extremismusforschung”

Um die Debatte der Gleichsetzung und deren Hintergründe zu verstehen, lohnt es sich, die Extremismustheorie genauer zu betrachten. Die Extremismustheorie basiert auf der Totalitarismustheorie, welche maßgeblich von der Philosophin Hanna Arendt mitbegründet wurde. Diese besagt, dass totalitäre Diktaturen einen neuen Menschen auf Grundlage einer Ideologie erschaffen wollen. Mit dieser Theorie wird versucht, den Faschismus und den Sozialismus gleichzusetzen und auf diesem Wege ist auch die Begrifflichkeit Extremismus entstanden. Die Theorie wurde stark in den 1970er Jahren geprägt und wurde seitdem regelmäßig aufgegriffen. Einer der Gründer der Extremismustheorie ist der Politikwissenschaftler Eckhardt Jesse. Dieser arbeitet eng mit dem Verfassungsschutz zusammen. 2011 vor der Selbstenttarnung des NSU bestätigte Jesse die Aussagen des Verfassungsschutzes, dass es keine rechten Terrorstrukturen in Deutschland gäbe. Als dann der NSU sich im November 2011 selbst enttarnt hatte, kommentierte Jesse, dass man die Konfrontationsgewalt von rechts und links oft vernachlässige. Auch wenn Eckhardt Jesse an seiner Extremismustheorie festhält, so kann die Politikwissenschaft, als auch die Rechtswissenschaft keine eindeutige Definition für diese Begrifflichkeit vorzeigen.  Jedoch wird der Begriff des Extremismus auch von staatlichen Institutionen verwendet.

Die politische Landschaft in Form eines Hufeisens

Die Extremismustheorie teilt die politische Landschaft auf einem Hufeisen auf. Dabei stellt der äußerste Rand den Links- bzw. Rechtsextremismus dar. Eine Abschwächung davon ist der Links- bzw. Rechtsradikalismus und darauf folgt dann die politische Linke bzw. Rechte und die Rundung des Hufeisens stellt die politische Mitte dar. Diese ist harmonisch und weit weg von den Rändern, so die Extremismusforschung. Dabei ist die Unterteilung in Rechts- bzw. Linksextremismus, wie es die Theorie vorsieht, rein logisch nicht möglich. Denn was “die Mitte der Gesellschaft” ist, hängt stark von Begebenheiten, Ort und Zeit ab. In Zeiten, in denen rassistische Parteien, wie die AfD, an Stärke gewinnen, ist die Mitte auch weiter Rechts. So kann der Innenminister Horst Seehofer regelmäßig über Geflüchtete herziehen und gilt nicht als politischer Rand. Die Deutungshoheit über diese Begrifflichkeit hat der Verfassungsschutz, denn dieser veröffentlicht jedes Jahr einen Bericht, in dem er Organisationen, Parteien und auch Zeitungen als Linksextrem, Rechtsextrem oder Islamistisch einstuft. Dabei ist die Bewertung dieser Sachlage keine Wissenschaft, sondern eine rein subjektive Betrachtungsweise. Die Mitte der Gesellschaft betrachtet diese angeblichen Ränder gleichgültig. Ob es nun die Proteste gegen den G20 sind oder in Chemnitz Migranten und Geflüchtete gejagt werden, spielt keine Rolle für die Mitte der Gesellschaft. Denn alleine die Begrifflichkeit der „Mitte“ ist schon ein Ausdruck der Gleichgültigkeit und des Unpolitischen.

Soziale Verhältnisse werden ausgeblendet

Die Extremismustheorie will auf komplexe gesellschaftliche Erscheinungen simple Antworten geben. Die Aneinanderreihung von sogenannten politischen Extremen verdeckt das eigentliche Problem. Nämlich die Ursachen für diese Entwicklung in dieser Gesellschaft. Denn diese weist zahlreiche Widersprüche innerhalb dieses Systems auf. Dabei ist die Aneinanderreihung von „Phänomenen“ in der bürgerlichen Politikwissenschaft sehr beliebt. Die Devise der Politikwissenschaften ist: Viele Phänomene bezeichnen können, aber keine erklären müssen. Man muss auch bei der Extremismustheorie die Erscheinungen systematisch und im Gesamten betrachten. Wie konnten eigentlich die Rechten in Deutschland erstarken? Auf diese Frage hat die Extremismustheorie keine Antwort, wohlgemerkt gilt diese als eine eigene wissenschaftliche Disziplin. Eine Partei, wie die AfD, konnte nur erstarken, weil die herrschende Politik, also die Mitte, einen Nährboden geschaffen hat mit einem Kahlschlag von sozialen Rechten. Die Gesellschaft abgekoppelt zu betrachten, führt also zu einer verzerrten Sichtweise der Realität.

Links und Rechts können nicht gleichgesetzt werden

Mitunter ist die Argumentation der Extremismustheorie, dass alle Extremen darin vereint sind, dass sie gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ankämpfen würden. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung schließt anscheinend auch das gesellschaftliche System, den Kapitalismus mit ein, denn anders lässt sich die Gleichsetzung nicht erklären. Denn die Betrachtungsweise auf den Menschen ist vollkommen gegensätzlich. Während die Rechte und auch der Islamismus, wobei der in der Extremismustheorie gar nicht explizit enthalten ist, auf Menschenverachtung beruhen, so verteidigen linke den Gedanken der Völkerverständigung. Jedoch ist damit, dass der Islamismus nicht mal auf dem Hufeisen abgebildet werden kann, auch jeder Anspruch auf Wissenschaftlichkeit entfallen, denn die Wissenschaft sollte einen ganzheitlichen und allgemeingültigen Erklärungsanspruch haben.

Auch die praktische Anwendung dieser Theorie ist historisch klar einzuordnen. 1972 wurde der Radikalenerlass unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt, in einer SPD–FPD Koalition, beschlossen. Mit diesem Erlass mussten 3,5 Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst ihre Gesinnung überprüfen lassen. Es ist kaum zu übersehen, gegen wen sich dieser Radikalenerlass richtete. Es waren Linke, denen der Zutritt in den öffentlichen Dienst verwehrt werden sollte. Gegen 10.000 Menschen wurde aufgrund der politischen Meinung ein Berufsverbot verhängt, wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte. Währenddessen sind Angehörige der Hitlerjugend–Generation in die wichtigsten Institutionen nachgerückt und die Propaganda, dass der größte Feind der Demokratie die politische Linke sei, war nun auch gesellschaftlich akzeptiert. Die sogenannte „Entnazifizierung“ von Westdeutschland bleibt eine Lüge des bürgerlichen Geschichtsunterrichts. Wer aber denkt, dass dieser Radikalenerlass der Vergangenheit angehöre, der täuscht sich. Denn auch heute müssen Bewerber für den öffentlichen Dienst bestätigen, dass sie bestimmten politischen Gruppen nicht angehören. So z.B. gab es in Bayern einen Fall, dass jemand bestätigen musste, nicht Mitglied in der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) zu sein, da diese laut dem bayrischen Verfassungsschutz linksextrem eingestuft ist. Alleine die Tatsache, dass eine Organisation, die von den Verfolgten des Naziregimes gegründet wurde, als linksextrem betitelt wird und durch die Mitgliedschaft die Arbeit im öffentlichen Dienst verweigert werden kann, ist erschreckend und zeigt auch auf, nach welchen Prinzipien die Herrschenden handeln und regieren.

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