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60 Jahre Migration aus der Türkei: eine Bilanz

Yücel Özdemir

Lehren aus der Geschichte zu ziehen bedeutet, mehr als Nostalgie zu betreiben, an die Geschichte zu erinnern oder auf vergangene Probleme aufmerksam zu machen. Eine erstrebenswerte Zukunft lässt sich nicht alleine mit der Erinnerung an die Vergangenheit aufbauen und braucht eine solide Grundlage mit richtigen Schlussfolgerungen aus bisher gemachten Fehlern und Mängeln. Die folgenden Aspekte der 60 jährigen Migrationsgeschichte sollen dabei helfen, diese Perspektive zu verfestigen.

1. Migration als westentliche Notwendigkeit für das deutsche Kapital

Ohne Zweifel war der primäre Grund für die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland die Stärkung des deutschen Kapitals. Damals wie auch heute war es das Hauptziel, unbegrenzt Waren zu produzieren und für diese Waren neue Absatzmärkte zu erschließen.

Die deutsche Bourgeoisie hatte, um mehr Einfluss, Märkte und Kolonien zu gewinnen, in zwei großen Weltkriegen schwere Niederlagen erlitten. Das deutsche Kapital wusste, dass Arbeitskraft erforderlich war, um unbegrenzt produzieren zu können. Doch der Verlust einer ganzen Generation im kurz zuvor verlorenen Weltkrieg hemmte das Wachstum. So war zu Beginn der 1950er Jahre die Anwerbung von gelernten und ungelernten Arbeitskräften aus dem Ausland eine Pflichtoption für die deutsche Industrie. 

Der vom deutschen Kapital entwickelte Plan, den Arbeitskräftebedarf aus dem Ausland zu decken, um wieder aufzusteigen, führte in kurzer Zeit zu Ergebnissen und Deutschland wurde zum mächtigsten und reichsten Land Europas. Die „ausländischen“ Arbeitskräfte boten der deutschen Bourgeoisie die Möglichkeit, sich in jeder Hinsicht mit ihren Konkurrenten zu messen. Das gilt auch heute noch. Hinter der Tatsache, dass Deutschland das Land mit den meisten Zuwanderern ist, steckt der Wunsch, diesen Vorteil nicht zu verlieren. Denn es wird nun lautstark behauptet, dass der Bedarf an Arbeitskräften, aufgrund der niedrigen Geburtenraten nur von außen gedeckt werden könne. Migrationspakte, Anwerbevereinbarungen und sogar Asylgesetze in Koalitionsvereinbarungen werden unter diesem Aspekt beschlossen.

2. “Fremdsein” als politisches Mittel

Es wird deutlich, dass das deutsche Kapital tatsächlich dauerhaft „ausländische Arbeitskräfte“ braucht. Die ständige Betonung von „Gastarbeitern“ und der in den Vordergrund gerückten „Fremdheit“ ist vor allem auf das Kalkül einer stärkeren Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte zurückzuführen. Bewusst wird eine Politik betrieben, die zu einer Spaltung zwischen den “einheimischen” und den “fremden” Arbeitern führen soll, wovon vor allem das Kapital wirtschaftliche Vorteile zieht. Auf dieser Grundlage haben die Regierungen den Status des „Gastarbeiters/Ausländers“ bis heute wirtschaftlich, politisch und rechtlich dauerhaft beibehalten und dieses Grundverständnis besteht bis heute fort, auch wenn heutzutage zumindest auf dem Papier die Gleichheit aller bescheinigt wird. Dass Deutschland ein “Einwanderungsland” ist, wurde  faktisch gerade erst vor 20 Jahren eingestanden, 40 Jahre zu spät. Gleichberechtigung und politische Teilhabe auf allen Ebenen gibt es jedoch bis heute nicht und Migranten bilden den überwältigenden Großteil des Präkariats auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

3. “In der Fremde sein” als politisches Mittel

Auch die Perspektive des türkischen Staates, die Arbeitslosigkeits- und Armutswelle im eigenen Land zu minimieren und zusätzliche Devisen ins Land zu holen, basierte auf dem Prinzip „vorübergehend“. Ideologisch-politische Propagandamotive „Heimat“, „Nation“, „Religion“ wurden hervorgehoben, um den Devisenhahn nicht abzuschneiden. Es wurden alle möglichen Anstrengungen unternommen, um die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zu dem Land, in dem sie arbeiteten und lebten, zu verhindern. Mit zunehmender Dauerhaftigkeit wurden jedoch Konzepte, wie „europäische Türken“ und „Diaspora-Türken“ eingeführt. 

Man kann sagen, dass der politische Schaden, den der türkische Staat den Arbeitern während der 60-jährigen Migrationsreise zugefügt hat, sehr groß ist. Die Zuschreibung von “Fremdsein” durch die deutsche Regierung und die von “in der Fremde sein” der türkischen Regierung sind wie die beiden Seiten einer Medaille. Beide versuchen, im Kern zu verhindern, dass die Werktätigen ein Teil der Gesellschaft in Deutschland werden. 

4. Identitätspolitik als Spaltungsinstrument

Nachdem deutlich wurde, dass die Migranten nun ein untrennbarer Teil dieses Landes waren und bleiben würden, wurde einerseits Deutschland als „Einwanderungsland“ akzeptiert, während aber gleichzeitig, statt Gleichberechtigung, Diskriminierung und Vorurteile weiter verstärkt wurden, diesmal auf der Grundlage auf ethnische Identitäten und Glauben. In den 1990er Jahren traten Diskriminierungen, wie „kriminelle Ausländer“ und „parasitäre Asylbewerber“ und in den 2000er Jahren Vorurteile aufgrund von Religion und Glauben in den Vordergrund. Die existierenden Probleme wurden auf unterschiedliche Weise behandelt, als ob sie unabhängig von der sozialen Situation oder der imperialistischen Besatzungspolitik wären und sollten das Zusammenleben stören. Vor allem nach 9/11 wurden durch die Propaganda vom „Kampf der Kulturen“ Vorurteile unter den Arbeitern unterschiedlicher Glauben geschürt und wichtige Grundrechte und Grundfreiheiten stark eingeschränkt. Auch wenn das Kapital, seine Parteien und die Presse versuchen, auf Grundlage von “Herkunft” und “Glauben” Spaltungspolitik zu betreiben, dabei manchmal an Stärke gewinnen und dem Zusammenleben Hindernisse in den Weg stellen, wächst das Leben mit jedem Tag stärker zusammen.

5. Hoffnungen auf die Zukunft

Wenn wir also auf die 60 Jahre der Migration aus der Türkei nach Deutschland gucken, haben wir weder ein Schreckensbild, noch eine glänzende Geschichte vor uns. Während die eine Seite der Medaille das Leiden, die Sehnsucht, die schwere Ausbeutung, die Diskriminierung zeigt, stehen auf der anderen Seite der gemeinsame Kampf für eine bessere, gemeinsame Zukunft in den Betrieben, oder auf der Straße, die Freundschaft, gute Kollegen und Nachbarn. Die Zahl derjenigen, die Deutschland als die erste Heimat auserwählt haben, überwiegt bei weitem, die derjenigen, die sich für die Türkei entschieden haben. Denn die Migration nach Deutschland bereicherte die türkeistämmigen Arbeiter nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und kulturell.

Die Bilanz zeigt, dass 60 Jahre, die nicht mal einem Augenaufschlag in der Menschheitsgeschichte entsprechen, viele Hürden für das Zusammenleben genommen wurden. Wichtig sind nun die kommenden 60 Jahre. Deutschland ist mittlerweile nicht nur ein Land der „Deutschen“, sondern auch ein Land der Migrantionsgeschichte. Auch wenn wir eine unterschiedliche Herkunft, Hautfarbe und Glauben haben, hängt die Zukunft der migrantischen Arbeiter von der Zukunft aller Arbeiter ab, die gegen ihre Ausbeutung kämpfen.

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