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Durch die blau-gelbe Brille

Ipek Baydar

Demokratisch, queer, PoC, militant – das ist das Bild, welches vom Jugendmagazin der Bundeszentrale für politische Bildung „fluter.“ von der Ukraine gezeichnet wird. Über 50 Seiten erstrecken sich bunte, vielfältige und vor allem tragische Einzelschicksale, die alle dasselbe Fazit anvisieren: Die Ukraine braucht mehr Waffen!

Das in blau-gelben Farben gesättigte Bild auf dem Cover lässt es zwar schon erahnen, doch der Titel in Schriftgröße 120 macht es noch einmal klar: In dieser Ausgabe der fluter. geht es um die Ukraine. Der Punkt auf dem „i“ bildet die erste von unzähligen Ukraine-Flaggen. Die Ausgabe besteht aus 19 Artikeln, die alle in einem sehr coolen, modernen und vor allem Jugendlichen Layout gehalten sind. Das Editorial klingt nach einem dramatischen Game Opening aus einem Computerspiel. Die meisten Bilder ähneln eher Werbeanzeigen für Marken wie Urban Outfitters, „langweilige Politik“ ist auf jeden Fall Fehlanzeige. Der rote Faden, der sich durch die Artikel zieht, lässt sich so benennen:

1) Das Geschichtsbild der Ukraine kann nach Belieben abgeändert werden.

2) Die Ukraine ist seit Selenskyj der Innenbegriff einer Demokratie und fühlt sich dem Westen, der EU und der NATO zugehörig.

3) Die Bevölkerung der Ukraine ist queer, sie ist bunt, unzählige verschiedene Herkünfte leben solidarisch zusammen, denn sie alle verfolgen das gemeinsame Ziel der Aufrüstung. Diskriminierung, Rechtsruck und Rassismus sind Probleme von gestern.

4) Alle sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme im Land sind mit der Überforderung der Regierung durch den Kriegsausbruch zu erklären.

Vom „Holodomor“ zum nie dagewesen Antisemitismus

Die fluter. startet mit dem Beitrag „Goodbye Lenin!“, in dem erst einmal mit dem „kommunistischen Säulenheiligen“ aufgeräumt werden soll. Es folgt ein Rückblick ins Kiew des 1. Weltkriegs. Schnell ist klar, dass historische Fakten der Geschichtsauffassung von Betroffenen untergeordnet werden können – dass es sich dabei größtenteils um faschistische und nationalistische Erzählungen handelt, stellt kein Problem dar. In zahlreichen Artikeln wird sich auf den sogenannten „Holodomor“ („Mord durch Hunger“) bezogen, unter dem die ukrainische Bevölkerung in den 1930er Jahren gelitten haben soll. Die sowjetische Regierung hätte Millionen von Ukrainer:innen mit Absicht verhungern lassen. Weder genügt der Konsens unter Geschichtswissenschaftlern darüber, dass es sich bei diesen Erzählungen um Geschichtsverfälschung handelt, noch der Fakt, dass der Ursprung der Genozid-Erzählung bereits im Jahr 1935 als Lüge entlarvt wurde. Zwar war bereits zu dem Zeitpunkt klar, dass es sich bei den “Beweis-Fotos“ in der US-Presse um Fälschungen und gezielte Propaganda gegen die Sowjetunion handelt, trotzdem hat die Erzählung über den Holodomor es nicht nur in die fluter. geschafft, sondern auch in den Deutschen Bundestag, wo er im vergangenen Jahr als Völkermord anerkannt und verurteilt wurde. Deutschland kann seine historischen Verbrechen in der NS-Zeit laut zahlreichen Artikeln nur mit einem wieder gut machen und zwar mit der Lieferung durch deutsche Waffen. Was in der fluter. hingegen keinen Platz hat: ein einziger Satz zur Befreiung vom Hitler-Faschismus durch die Rote Armee, die damalige Kollaborationen der ukrainischen Aufstandsarmee mit der SS und der Wehrmacht oder aber generell Berichte über den historischen Antisemitismus im Land. Weder hat die heutige Ukraine ein „größeres Problem mit Rechtsextremismus“ als andere Länder, noch hätte eine „einzige jüdische Person, mit der gesprochen wurde, antisemitische Erfahrungen gemacht“. Und wie könnten die dortigen Verhältnisse in fast jedem Artikel noch besser geschmückt und verzerrt werden als damit, dass der Präsident doch selbst Jude ist.

Demokratisch, demokratischer, Selenskyj

Es war nämlich einst die Ukraine des Rückschritts und der Korruption, bis der Schauspieler Wolodymyr Selenskyj an die Macht kam und sich umgehend daran machte, „eine Nation rund um Werte wie Meinungsfreiheit und Demokratie zu bilden“. Eine Nation frei von Korruption sollte die Ukraine werden und das durch den Präsidenten, dessen Offshore-Geschäfte und Steuer-Tricksereien erst kurz vor Kriegsbeginn in den sogenannten Pandora Papers enthüllt wurden. In der 50-seitigen Zeitschrift findet sich diese Tatsache in einem einzelnen Halbsatz wieder. Genau so wenig wird dem gegenübergestellt, dass währenddessen, also vor dem Krieg – 45% der Bevölkerung in Armut lebten. Stattdessen ist die Rede von einem „Präsidenten, der seine Stellung nicht dazu nutzt, der reichste Mensch des Landes zu werden“, denn er ist der Präsident einer „jungen Demokratie, die einfach nur eine Chance braucht“. Dass laut Amnesty International in dieser besagten Demokratie auch vor dem Krieg die Meinungs- und Pressefreiheit mit Füßen getreten, oppositionelle Parteien verboten und Menschenrechtsverletzungen kaum verfolgt wurden, davon will die fluter. nichts wissen.

Regenbogen-Flaggen und Diversität soweit das Auge reicht

Dies zur Kenntnis zu nehmen, würde nämlich leider gar nicht in das geschaffene Bild passen. Schließlich ist die moderne Ukraine doch divers: Sie vereint schwarze Frauen, die sich erst mit Kriegsbeginn wie wahre Ukrainer:innen gefühlt haben, die LGBTQI+ Community und Punks mit konservativen Bürger:innen im gemeinsamen Kampf um Aufrüstung. Wie sehr die Menschen Angst davor haben, als Kanonenfutter verheizt zu werden, wird nicht behandelt – lediglich ein Geflüchteter junger Mann spricht kurz darüber, wie sehr er Angst zurückkehren und an die Front gehen zu müssen. Spätestens ein Blick in den Amnesty Bericht vor Kriegsbeginn lässt die “woke“ Fassade jedoch bröckeln. Darin heißt es: „Doch gab es das gesamte Jahr über homosexuellenfeindliche Angriffe durch Gruppen, die Diskriminierung und Gewalt propagierten und nur in seltenen Fällen zur Rechenschaft gezogen wurden.“ (2021)

Vor dem Krieg war alles anders

Obwohl die Fakten klar und deutlich zeigen in was für einer schlechten politischen, ökonomischen und sozialen Lage sich die Menschen in der Ukraine auch schon vor Kriegsbeginn befunden haben, wird gezielt das Bild geschaffen, dass der Staat erst seit dem 24. Februar 2022 seinen Verantwortungen nicht mehr nachkommen kann und es der Bevölkerung deshalb so schlecht geht. Plötzlich müssen „NGOs wichtige Aufgaben übernehmen, denen die Regierung gerade nicht nachkommen kann“, denn leider sind die „Behörden vielfach überfordert“. Fast so, als ob im Jahr 2020 nicht 63% der Bevölkerung angegeben hätte, dass ihr “Erspartes“ nicht einmal einen Monat zu überleben reichen würde. Die mitleidigen Formulierung gegenüber der Regierung sind dabei an vielen Stellen an Geschmacklosigkeit nicht zu übertreffen und unterstreichen mit welchen Mitteln die bpb als Anstalt der Bundesregierung bereit ist den Nährboden innerhalb der Gesellschaft für die Befeuerung für Krieg zu schaffen.

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