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Leitkulturdebatten und Weihnachtsbäume

1998 bringt der damalige brandenburgische CDU-Innenminister Schönbohm den politikwissenschaftlichen Begriff „Leitkultur“ in die politische Debatte rund um den Themenkomplex „Migration und Integration“ ein. Doch erst 2000 findet um den Begriff der deutschen Leitkultur eine breite gesellschaftliche Diskussion statt. Friedrich Merz, damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, wird in einem Zeitungsinterview in indirekter Rede zitiert. Demnach müssten sich „Zuwanderer, die auf Dauer hier leben wollen, einer gewachsenen freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen.“ Und: „Zur maßgeblichen Leitkultur zählt Merz beispielsweise die Überzeugung, dass auch Zuwanderer einen eigenen Integrationsbeitrag leisten müssten; dass sie sich dabei anpassen müssten an die in diesem Land gewachsenen kulturellen Grund-Vorstellungen.“ Dafür erntet Merz viel Kritik von der Opposition, aber auch in parteiinternen Diskussionen von seinen Parteifreunden. Er relativiert seine Aussagen. Der Zeitgeist ist ein anderer: Rot-Grün will die Staatsbürgerschaft reformieren und endlich in der bundesdeutschen Realität ankommen, dass Deutschland tatsächlich „ein Einwanderungsland“ ist. Die Staatsbürgerschaft wird reformiert: Man ist nicht mehr Deutscher mit dem Blut, sondern der Geburtsort und die Dauer des Wohnortes in Deutschland wird zum Faktor, um die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Auch die CDU springt auf den Zug auf. Zwei Jahre später kickt Angela Merkel Merz vom Fraktionsvorsitz. Merkel versucht einen kompromissorientierten, liberalen Integrationsansatz bis zu ihrem Abgang als Kanzlerin, aber immer im Blick, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu schützen und das Potenzial der Migranten im Land für die Wirtschaft voll auszuschöpfen oder zumindest verwertbar zu machen. Merz mit seinen „werteorientierten“ und „völkischen“ Einstellungen (sein Opa war SA-Mann und aktiver Politiker im 3. Reich) verschwindet von der politischen Bühne, findet Anschluss in der freien Wirtschaft als Lobbyist und Rechtsanwalt bei Black Rock und kommt erst 2018 wieder zurück in die Politik. 2018 und 2020 versuchte er erfolglos den CDU-Vorsitz zu bekommen, wird aber erst im dritten Anlauf 2021, nach der verlorenen Bundestagswahl und dem Rücktritt von Armin Laschet als damaliger Vorsitzender und Kanzlerkandidat der Union, gewählt.

Baumkauf ist anscheinend urchristlich

Jetzt, Weihnachten 2023 zieht Friedrich Merz wieder mit dem Kampfbegriff der deutschen Leitkultur zu Felde. Nun konkretisiert er, was er seiner Meinung nach unter „die in diesem Land gewachsenen kulturellen Grund-Vorstellungen“ versteht. Seine Aussage kann nicht aber falscher sein: „Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen“ und „Es ist die Art von christlich-abendländisch geprägter kultureller Identität, die sich über Generationen überträgt, von der unsere Kinder geprägt sind, und die sie dann so oder so ähnlich selbst weitertragen.“ Übersetzt: Deutscher ist, wer den Baum kauft und seinen Kindern beibringt, wie er diesen Baum zu kaufen hat?! Eine mehrköpfige vorbildliche deutsche Familie muss demnach vermutlich auch der Kopfanzahl entsprechende Anzahl von Bäumen kaufen?! Wir könnten es weitertreiben: auch jedes einzelne deutsche Haustier braucht einen eigenen Baum! Aber aufstellen muss man die Bäume vermutlich nicht, denn zur Leitkultur gehört eben der Kauf, nicht mehr, nicht weniger! Der Kauf prägt die Kinder christlich-abendländisch und somit ist gewährleistet, dass man nach Generationen Deutscher wird oder bleibt.

Leitkultur: „Wir“ und „Die“

Mitte Dezember hatte die CDU ihr neues Grundsatzprogramm vorgelegt. Darin fordert sie „Mut zur Leitkultur“. Und weiter: „Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden“. So wird ein Schuh daraus: Nur wer sich zur Tanne bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden. Mal abgesehen davon, dass die Tanne ihren Ursprung vermutlich aus heidnischen Traditionen hat und vor lediglich gerade mal einigen hundert Jahren als „christlicher Weihnachtsbaum“ den Einzug in die Wohnzimmer der evangelischen Reformisten fand, ist diese Leitkulturdebatte wieder einmal nur Stimmungsmache und Wahlkampfauftakt der Union. Immerhin ist im Mai Europawahl und Merz forderte kürzlich Neuwahlen, da die Ampel in einer Krise stecke.

Durch die Leitkulturdebatte werden vor allem Menschen mit muslimischen Wurzeln zu „andersartig“ oder zu Fremden erklärt. Denn wenn man versucht, sich selber zu definieren, z.B. mit dem Kauf von Bäumen oder ober- oder untergärigen Getränken, die man trinkt oder nicht, kurz, wenn man eine Selbstdefinition versucht, schließt man automatisch andere aus, die diese Eigenschaften nicht haben. Die AfD und andere Kräfte fordern seit je her, kriminelle „Ausländer“ abzuschieben. Doch was tun, wenn diese einen deutschen Pass haben? Genau hier wird deutlich, worum es bei der Debatte wirklich geht: Deutlich machen, wer „echt“ deutsch ist und wer „beweisen“ muss, dass er sich angemessen anpasst! Tausende von muslimischen Familien, die „der Kinder wegen“ Weihnachtsgeschenke oder Bäume kaufen, aber trotzdem keine traditionellen Weihnachtsgerichte auftischen, gehören zur deutschen Leitkultur dazu, oder aber auch nicht? Es wird immer und wieder diskutiert, wer „wir“ sind. Dabei wird auch ganz deutlich gesagt, wer „wir“ nicht sind. Die Betonung einer nationalen Leitkultur geht mit der Ablehnung des Fremden, des Anderen einher. Das „Andere“ gegenüber dem Deutschen abzuwerten, hat in Deutschland eine lange Tradition. Aber das muss man Merz nicht sagen.

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