Oktay Demirel / Zeynep Arslan
Die Erdkruste besteht aus sieben großen tektonischen Platten. Die Pazifische, die Antarktische, die Nordamerikanische, die Südamerikanische, die Afrikanische, die Eurasische und die Australische Platte. Hinzu kommen circa 60 kleinere Platten. Die Platten „schwimmen“ auf dem flüssigen Erdkern und bewegen sich pro Jahr einige Zentimeter. Dort, wo die Platten an den Plattengrenzen zusammentreffen, entsteht eine enorme Spannung. Wird diese Spannung zu groß, entsteht ein gewaltiger Druck, der sich dann auf beide Plattenseiten entlädt und die Erde in Form eines Erdbebens erschüttern lässt, meist auf Kosten der kleineren Platte.
Die Türkei befindet sich auf der kleinen anatolischen Platte genau an der Schnittstelle zwischen der aus dem Süden kommenden Afrikanischen und vom Westen und Norden kommenden Eurasischen Platte. Von Südost drückt die Arabische Platte und von Osten die Iranische Platte auf die kleinere Anatolische. Somit zählt das Land zu den gefährdetsten Erdbebenregionen der Welt. 96 Prozent der Türkei ist Erdbebengebiet, über 33 Prozent davon sogar Erdbebenzone 3, also sehr stark gefährdet. 98 Prozent der Bevölkerung in der Türkei ist somit insgesamt erdbebengefährdet, es gibt nur wenige Orte, die sicher von Plattenverschiebungen sind.
Der politisch-strategische Vorteil, Afrika, Asien und Europa zu verbinden, ist zugleich auch der geologische Fluch der Türkei, sie befindet sich doch ständig unter Spannung, die auf Entladung drängt.
Kahramanmaras nicht das erste und nicht das letzte Beben im Land
Nach offiziellen Angaben sind in der Türkei in den letzten 84 Jahren 56650 Menschen bei schweren Erdbeben ums Leben gekommen. Der stärkste ereignete sich im Dezember 1939 mit der Stärke 7,9 in Erzincan mit 32962 Toten. Die letzten starken Beben der letzten Dekaden waren im August und November 1999 in Marmara und Kocaeli im Westen. Damals wurden über 133.000 Gebäude zerstört, 17480 Menschen verloren ihr Leben. Das Erdbeben 2023 und folgende Nachbeben richteten Schäden in 10 Städten im Süden und Südosten des Landes an, genau da, wo sich die anatolische Platte mit der Arabischen trifft.
Nach den Marmara-Erdbeben 1999 begriff die Türkei den Ernst der Lage und kündigte viele politische und juristische Maßnahmen an. So wurde zur Regulierung des Bauwesens die Einführung von Aufzeichnungen beschlossen, Erdbeben Verordnungen wurden beschlossen und veröffentlicht, das Bauaufsichtsgesetz wurde erlassen, es wurden Normen und Vorschriften für die Herstellung von Baumaterialien (Beton/Eisen) festgelegt. Auch wurde die „Notwendigkeit einer städtischen Umgestaltung“ beschlossen: Das Ministerium stellte fest, dass 1/3 des derzeitigen Gebäudebestands (7 von 20 Millionen) nicht erdbebensicher sei und Bauprojekte wurden versprochen. Aber mehr als Papiertiger wurden es nicht. Weder die Ausbildung von Rettungskräften wurde anvisiert oder Rettungshunde angeschafft, noch wurden Maschinen und Ausrüstung besorgt. Wenn man sich die Nachrichten der verzweifelten Rettungsaktionen im Fernsehen anschaut, sieht man die chaotischen und verzweifelten Hilfeversuche der vermeintlichen Rettungskräfte. Es fehlt an Detektoren und Kränen. Die private Bauindustrie wurde gebeten, Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen.
Wo sind die Erdbebensteuern?
Dabei wäre eine solide Finanzierung von Rettungsteams samt Ausrüstung möglich. Nach dem Erdbeben von 1999 wurde nämlich zunächst eine „Solidaritätssteuer“ erhoben und ab 2003 dauerhaft eingeführt mit dem Namen „Besondere Kommunikationssteuer“. 2022 wurde diese Steuer mit einem Erdogan-Dekret, also ohne die Zustimmung des Parlamentes von 7,5 Prozent auf 10 Prozent erhöht. Unmittelbar nach dem Erdbeben von 1999 wurden unter dem Vorwand des Erdbebenrisikos weitere Steuern wie die Sonderverbrauchssteuer, die Erdbebensteuer und die DASK (= Versicherungsagentur für Naturkatastrophen) erlassen. Insgesamt wurden seit 2003 Steuereinnahmen in Höhe von 174 Mrd. Türkische Lira eingenommen, deren Verwendungszweck Naturkatastrophen und ihre Bekämpfung sein und den Opfern von solchen Ereignissen zugutekommen sollten. Wo die Gelder tatsächlich verblieben sind, weiß vermutlich nur die AKP-Administration.
Zweispurige Autobahnen und Flughäfen
Mit den für das Erdbeben erhobenen Steuern wurden in den letzten Jahren u.a. Schnellstraßen und zweispurige Autobahnen gebaut und „Megaprojekte“ wie Brücken, Tunnel, Flughäfen und städtische Krankenhäuser finanziert, die der Staat zahlte und durch Garantien und Bürgschaften an Privatunternehmen günstig verpachtete. So geschehen in Hatay, trotz Kritik von Experten, dass die Stadt genau in der Mitte zweier Platten liegt. Seit gestern hat sich die Platte um 3,5 Meter verschoben, die Autobahn und Landebahn des Flughafens sind zerstört, das Krankenhaus komplett eingestürzt. Als sie die Steuern erhoben, machten sie nicht mal ein Geheimnis daraus: der ehemalige Finanzminister Kemal Unakıtan sagte im Jahr 2003: „Es hat keinen Sinn, die Öffentlichkeit zu täuschen. Bei der Einführung der Steuer wurde nach einer Rechtfertigung gesucht. Sie wurde Erdbebensteuer genannt. Sie wurde eingeführt, um das Haushaltsdefizit zu schließen.“
Im Januar 2020 verlangte die HDP in einer Anfrage an die Regierung eine Auflistung, wofür die Erdbebensteuern ausgegeben wurden. Die Anfrage wurde mit den Stimmen von AKP und MHP abgelehnt und nicht beantwortet. Die HDP hatte in ihrer Anfrage begründet, dass beschädigte und nicht erdbebensichere Gebäude nicht verstärkt und die Erdbebensicherheit der neu errichteten Gebäude nicht überprüft wurden.
Warum stürzen so viele Gebäude ein?
Naturkatastrophen sind manchmal nicht vorhersehbar oder vermeidbar, aber die Zahl der eingestürzten Gebäude und Toten kann man beeinflussen. Der erste Schritt wäre, nicht am Qualität des Betons und der Materialien einzusparen und sogar im Gegenteil, in Erdbebenzonen 3 sogar verstärkte Gebäude und Infrastruktur zu bauen, zu überprüfen und bei Bauunternehmen durchzusetzen. Aber das geht auf Kosten des Profits, wie man schnell feststellen kann und macht den Bau von Häusern unattraktiv. Auch die Baugenehmigungen werden einfach umgangen. Bei ungeeigneten statischen Verhältnissen werden einfach mehr Stockwerke gebaut, als physikalisch tolerierbar, sodass es eine Frage der Zeit ist, dass Gebäude wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.
Auch tragen fehlende Inspektion und mangelnde Überwachung stark dazu bei, dass Bauunternehmen fuschen. So werden Gebäude auf dem Papier perfekt, aber in der Praxis nicht ausreichend. Die Zerstörungswut der Erdbeben hängt nicht mit dem Boden zusammen, sondern mit der Qualität der Gebäude. Bau von Gebäuden auf nicht-gutem und ungeeignetem Boden bedingt bessere statische und physikalische Ausgleiche, wie wir das aus z.B. Japan kennen, einem anderen starken Erdbebenrisikogebiet, wo Häuser selten wie Kartenhäuser einstürzen.
Wir stellen fest. Die Erdbeben in der Türkei sind nichts Neues und Unerwartetes. Es sind nicht die Erdbeben, die so tödlich sind, wie im aktuellen Fall, es ist die Fahrlässigkeit der politischen Eliten und die Profitgier der Wirtschaft, die zum Tod führt.