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Stille und schrille Schreie in Maraş

Fatih POLAT, Chefredakteur der Tageszeitung Evrensel, aus Maraş

Als ich am Dienstag, den 7. Februar, dem zweiten Tag des Erdbebens, gegen 21.00 Uhr in Maraş, dem Epizentrum des Bebens, eintraf, wurde ich zunächst von Menschen begrüßt, die mit Decken durch die Straßen liefen. Dann sah ich Autos, die in einer Schlange an der Tankstelle auf Kraftstoff warteten – es wurde übrigens nur Diesel verkauft, da es kein Benzin gab. Und ich begegnete Menschen, die darauf warteten, ihre Telefone aufzuladen.

Die Hilfe ist unzureichend

Die erste Person, mit der ich in der Maraş sprach, war ein junger Mann Ende 20, der dort sein Telefon aufladen wollte. Er sagte, sie seien zu Hause von dem Erdbeben, das sich im Morgengrauen ereignete, überrascht worden. „Wir waren zu sechst, eine WG, in der ich mit meinen Freunden wohne. Das Gebäude hat vier Stockwerke. Wir waren im zweiten Stock. Es gab keine Verletzten, aber das gesamte Stadtzentrum wurde zerstört.“– „Wird einer deiner Verwandten vermisst?“
– „Ich kann im Moment viele Leute nicht erreichen.“
– „Bekommt ihr Hilfe?“
– „Es gibt sie, aber sehr unzureichend. Es gibt Viertel, die die Hilfe noch nicht erreicht hat. Zum Beispiel war noch niemand in meinem Viertel, in der Beyazıt Nachbarschaft. Dort sind zwei Gebäude eingestürzt, und niemand hat geholfen. Es gibt nicht genug Kräne.“
– „Wurde mit dem Aufbau der Zelte begonnen?“
– „In einigen Gebieten sind Zelte der Katastrophenschutzbehörde (AFAD) aufgestellt worden. Aber auch sie reichen nicht aus. Du wirst es selbst sehen, wenn du jetzt dorthin gehst. Die Hilfe besteht nur aus einer halben Tasse Suppe am Morgen. Viele Menschen haben jetzt damit begonnen, große Märkte zu plündern.“

Rettungsmaßnahmen sind im Gange
Er nennt seinen Namen, fügt aber hinzu: „Bitte schreib meinen Namen nicht auf, ich mache grade mein Staatsexamen, ich werde dann sicher die Sicherheitsüberprüfung nicht bestehen“. Nachdem wir unsere Nummern ausgetauscht haben und sich unsere Wege getrennt haben, komme an einer Ruine in der Trabzon-Straße vorbei, wo die Rettungsarbeiten im Gange sind. Zwei neunstöckige Gebäude sind hier eingestürzt. Die AFAD-Unterstützungsteams sind im Einsatz. Sie bitten die Wartenden, leise zu sein, und rufen in Richtung der Ruinen: „Kann jemand meine Stimme hören?“, „Wenn ihr mich hören könnt, schlagt mit etwas gegen die Wand.“
Der Teamleiter, mit dem ich hier gesprochen haben, sagt, dass sie im Laufe des Tages drei Menschen lebend herausgeholt haben und dass sie die leblosen Körper von sechs Menschen geborgen haben.
Ali Ardıç, der in einem Wohnblock direkt gegenüber dem eingestürzten neunstöckigen Gebäude lebt, wohnt in einem Gebäude, das nicht eingestürzt ist. Er hatte jedoch Verwandte in diesem eingestürzten Gebäude. Sie befinden sich immer noch unter den Trümmern. Ali Ardıç sagt, dass in zwei Tagen insgesamt 11 Menschen lebend gerettet wurden. Er erklärt, dass die ersten Menschen, die aus dem eingestürzten neunstöckigen Gebäude gerettet wurden, unmittelbar nach dem Erdbeben von den Bewohnern des Gebäudes herausgeholt wurden.
Nachts verfolge ich eine Weile die Rettungsmaßnahmen und unterhalte mich mit den Menschen. In den frühen Morgenstunden des dritten Tages nach dem Erdbeben habe ich die Gebiete im Stadtzentrum, in denen zahlreiche Gebäude eingestürzt sind, besucht.

Tränenreicher Schrei des Vaters
Eine weinende Person vor einem eingestürzten Gebäude in der Cahit Zarifoğlu-Straße fällt uns auf. Sein Name ist Mustafa Narlı. „Hier gibt es keinen Staat“, sagt er und fährt fort: „Diejenigen, die eingegriffen haben, sind alle Freiwillige. Einige von ihnen kamen aus Kayseri. Einige kamen aus Tuzla, Istanbul. Einige kamen aus Rize. Einige kamen aus Sakarya. Sie sind alle Freiwillige.“ Seine Frau und seine Kinder waren unter dem eingestürzten Gebäude eingeschlossen. Er wartet verzweifelt auf ihre Rettung.
Die Zerstörung in der Stadt ist sehr groß und während wir vor einigen Gebäuden auf Rettungsarbeiten stoßen, können wir in anderen Gebäuden kein Rettungsteam sehen.
In der Belediye-Straße im Stadtzentrum gibt es viele eingestürzte Gebäude. Hier treffe ich auf Teams des Gesundheitsministeriums und von AFAD.
Ich spreche mit Hasan Nacak und Yılmaz Kahraman vom UMKE (Nationales Medizinisches Rettungsteam) des Gesundheitsministeriums. Das Wort „Parademic“ auf ihrer Kleidung zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Yılmaz Kahraman kommt mir von irgendwo bekannt vor. Er war bereits beim Erdbeben in Van Sanitäter. Wahrscheinlich habe ich ihn dort kennengelernt. Er erklärt, dass sie unmittelbar nach dem Erdbeben eintrafen und dass Unterstützungsteams aus vielen Teilen der Türkei kamen. Ein Stück weiter entfernt verteilt ein Team aus Adana Suppe. Ich sehe ein weiteres Team aus Ankara. Dort steht auch ein Bestattungsfahrzeug mit Särgen darin. Und Krankenwagen.

„Ich habe hier neun Kinder“
Eine alte Frau, die in eine Decke gehüllt ist, wandert vor den Ruinen umher. Ich gehe auf sie zu. Ihr Name ist Nadiye: „Ich habe hier neun Kinder“, sagt sie und deutet auf das eingestürzte Gebäude. „Sie haben meinen Schwager tot herausgezogen, meine Kinder sind noch da“, fährt sie fort.
Viele Menschen erzählen mir, dass die erste Hilfe unmittelbar nach dem Erdbeben durch die Nachbarn erfolgte. Es gibt auch Beschwerden über die Koordinierung der weiteren Hilfe. Ich sprach mit vielen Menschen, die erklärten, dass große Märkte wegen der Verzögerung der Hilfe geplündert wurden. Ich stelle fest, dass die Fenster der Lebensmittelketten BIM und A101 zerbrochen sind.
Am zweiten Tag des Erdbebens sagten einige Menschen, sie hätten keine Hilfe erhalten, während andere sagten, es sei nur heiße Suppe verteilt worden. Andererseits haben wir auch den Lieferungen von Hilfsgütern in die Stadt aus Kayseri beobachtet. Die Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums, mit denen ich hier sprach, sagten, dass die Hilfe aus der ganzen Türkei und aus vielen Teilen der Welt kommt. Dennoch sind Beschwerden, wie die erwähnten, weit verbreitet.
In der Zwischenzeit bemerke ich auch die Anwesenheit von Rettungsteams aus Aserbaidschan.
Im Stadtzentrum fahren Fahrzeuge mit verschiedenen Hilfsteams vorbei. Die Sirenen von Krankenwagen und Polizeiautos vermischen sich manchmal miteinander.

Der Ausnahmezustand erschwert das Sprechen
In der Zwischenzeit hat die Nachricht von der Verhängung des Ausnahmezustands ebenfalls ihre Wirkung gezeigt. Ich treffe auch auf Menschen, die ihren Namen nicht nennen wollen.
Der Hausmeister eines eingestürzten Gebäudes zum Beispiel fängt an, seine Erlebnisse inbrünstig zu schildern und als ich ihm sage, dass ich Journalist bin, sagt er: „Ich muss zum Gebet“ und geht weg.
Auf den Straßen von Maraş, wo die Nachbeben immer noch andauern, ist es unmöglich, nicht Zeuge eines mal stillen, mal schrillen Schreis zu werden, während wir den Menschen zuhören, die ihren Nachbarn helfen und ihren Verlust betrauern.

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