Written by 11:00 HABERLER

„Man gießt Öl in das Feuer eines Krieges durch Waffenexporte“

Jürgen Grässlin ist Vorsitzender des deutschen RüstungsInformationsbüros e.V.
(RIB e.V.), Koordinator des GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE, Bundessprecher der DFG-VK und der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher zum Thema Rüstung und deutsche Rüstungsexporte. Wir haben mit ihm ausführlich über den Krieg in der Ukraine und die deutsche Verantwortung gesprochen.

YÜCEL ÖZDEMİR

Foto: Privat

Sie beschäftigen sich seit den 80er Jahren mit dem Thema Rüstungsindustrie und Waffenexporte. Welche Bedeutung hat der russische Krieg gegen die Ukraine für die Rüstungsindustrie und die Aufrüstung für die Länder?

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine hat bei der Rüstungsindustrie in den westlichen Ländern, vor allem in NATO-Staaten, zu einer drastischen Steigerung der Aktienkurse geführt. Bereits zuvor war der Kurs der Rüstungsaktien leicht gestiegen, innerhalb der ersten beiden Kriegswochen aber hat er sich teilweise verdoppelt. Kriegsgewinnler sind u.a. deutsche Firmen, wie Rheinmetall mit dem Export von Radpanzern und Militärfahrzeugen und Heckler & Koch (H&K) mit dem Transfer von Maschinenpistolen und Sturmgewehren. Heckler & Koch-Waffen befinden sich bei türkischen Sicherheitskräften seit Langem im Einsatz. Die Türkei wurde in den vergangenen Jahrzehnten umfassend mit Kleinwaffen von H&K ausgerüstet, mit denen allein im türkisch-kurdischen Bürgerkrieg (1980 bis 1988) zehntausende Kurden verletzt oder erschossen wurden. Das haben meine Vor-Ort-Recherchen belegt, die ich in meinem Buch „Versteck dich, wenn sie schießen“ (https://www.juergengraesslin.com/index.php?seite=versteck_dich.htm) veröffentlicht habe. Wie so oft profitiert die Rüstungsindustrie von Kriegen.

Aber seit Jahren rüsten europäische Länder und Russland und China auf.

Das Stockholm International Peace Research Institute, SIPRI, hat Ende letzten Jahres die aktuellen Zahlen für den Export von Großwaffenherstellern im Jahr veröffentlicht, also für die Transfers von Kampflugzeugen, Militärhelikoptern, Kampfpanzern und Kriegsschiffen. Die SIPRI-Daten belegen, dass die Rüstungsindustrie weltweit zum sechsten Mal in Folge ihre Jahresumsätze steigern konnte. Und das wohlgemerkt auch in den letzten beiden Jahren der Coronapandemie. Die hundert größten Rüstungshersteller weltweit haben im Jahr 2020 Waffen und Dienstleistungen im Wert von mehr als 530 Milliarden Euro verkauft. Das heißt, die Gewinner in globalen Krisen- und Kriegszeiten sind die Rüstungskonzerne.

In Deutschland sind das Airbus auf Platz 11, Rheinmetall auf 27, die MBDA (mit Airbus) auf 30, ThyssenKrupp auf 55, Krauss-Maffei Wegmann auf 70 und Hensoldt auf 78 unter den TOP 100 im SIPRI-Ranking. Mit neuen Kriegen boomt die Rüstungsindustrie, nicht nur die deutsche. Unter den zehn führenden Rüstungsexporteuren weltweit finden sich sechs US-amerikanische, drei chinesische und ein europäischer.

Besonders die osteuropäischen Länder haben in den letzten Jahren aufgerüstet. Sie wurden von der NATO dabei unterstützt und haben mehr als 2% Bruttoinlandsprodukt in die Aufrüstung investiert. Welche Gefahren sehen Sie in einem regionalen Krieg?

Lassen Sie uns zuerst zurückblicken auf den Beginn der Neunzigerjahre. Damals hatte die NATO dem amtierenden russischen Präsidenten Michail Gorbatschow zugesagt, es werde definitiv keine Osterweiterung des Militärbündnisses geben. Die Versprechen erfolgten mündlich, wurden also nicht vertraglich festgeschrieben – was sich als Fehler herausstellte. Wenn man Protokolle der damaligen Verhandlungsführer zwischen West und Ost nachliest, dann ist klar, dass man damals der russischen Regierung den Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung fest zugesagt hatte. Dieses Versprechen wurde seitens der NATO auf ganzer Linie gebrochen. 1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn, 2004 dann Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen Mitglied der NATO, des Weiteren kamen Slowakei und Slowenien hinzu. Zu Recht fühlte und fühlt sich Russland betrogen. Und Russland sieht sich bedroht von der NATO, die im Baltikum mittlerweile direkt an das russische Territorium angrenzt.

Dieser Bruch von Absprachen erklärt Moskaus Wut. Er rechtfertigt jedoch in keinster Weise einen völkerrechtswidrigen Angriff, wie er im Moment seitens des Regimes von Vladimir Putin gegen die Ukraine mit gnadenloser Härte geführt wird.

Manche fordern „mehr Waffen für die Ukraine“. Kann das eine Lösung sein?
Wenn die Ukraine angegriffen wird, steht dem Land gemäß der Charta der Vereinten Nationen das Recht zur Selbstverteidigung zu. Tatsächlich kann es gut gemeint sein, Waffen in die Ukraine zu liefern, um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu stoppen. Dennoch sind diese Waffenlieferungen falsch, sogar gefährlich. Denn wer den Export von Kriegswaffen in einen Krieg hinein genehmigt, wird selbst zur Kriegspartei. Das heißt, Deutschland und viele weitere NATO Staaten können seither kein glaubwürdiger Organisator oder Teilnehmer von Friedensverhandlungen mehr sein – sie sind längst Kriegspartei. Wenn man Waffen liefert, verliert man die Kontrolle über deren Einsatz. In Deutschland hat die Behauptung eine große Rolle in der Diskussion gespielt, dass man nur „Defensivwaffen“ liefere. Das ist fachlich falsch, denn Defensivwaffen gibt es nicht. Jedes Gewehr und jeder Raketenwerfer kann nach der Abwehr eines Angriffs zum Gegenangriff eingesetzt werden.

Das heißt: Mit der Lieferung von Waffen gießt man Öl ins Feuer eines Krieges und trägt zur Konflikteskalation bei. Die Regierung Russlands hat entsprechend reagiert und erklärt: Jeder NATO-Staat, der jetzt Waffen an die Ukraine liefert, ist aus russischer Sicht Teil der Kriegsfraktion. So könnte der bisherige konventionelle Krieg unversehens international eskalieren und sich final zu einem alles zerstörenden Atomkrieg entwickeln. Ein dramatisches Szenario, das niemand will, das aber durchaus realistisch sein kann.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro angekündigt. Als Friedensmensch, der seit Jahren gegen Aufrüstung kämpft, wie haben Sie sich gefühlt, als Sie am 27. Februar diese Rede gehört haben?
Zeitgleich mit Bundeskanzler Scholz habe ich eine Rede gehalten, und zwar 200 Meter vor dem Deutschen Bundestag bei unserer Kunstaktion „Deutschlands größte Waffenkammer“. In meiner Funktion als Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“, dem größten Bündnis in der bundesdeutschen Geschichte gegen Rüstungsexporte mit rund 150 Mitgliedsorganisationen, setzte ich mich für Abrüstung und Entmilitarisierung und für den Stopp von Waffenexporten ein. Just in diesem Moment sprach Olaf Scholz im Deutschen Bundestag von einer „Zeitenwende in der Geschichte des Kontinents“. Der Kanzler kündigte in seiner Regierungserklärung ein „Sondervermögen Bundeswehr“ im Volumen von 100 Milliarden Euro an, das gesetzlich verankert werden soll. Mehr noch: Die Regierung hat angekündigt, dass von jetzt an mehr als 2% des Bruttoinlandsproduktes für Rüstung und Militär ausgegeben werden sollen. Das hieße, dass der Verteidigungsetat der Bundesrepublik Deutschland, der in den letzten Jahren bereits von 35 Milliarden auf 50 Milliarden Euro pro Jahr angehoben wurde, nun auf rund 75 Milliarden Euro gesteigert werden soll. Was für ein Skandal angesichts der Pflegekrise nicht nur in der Coronakrise, in Zeiten der immer größer werdenden sozialen Probleme aufgrund fehlender monetärer Mittel.

Wie kommt es, dass so plötzlich und unerwartet so viel Geld in die deutsche Aufrüstung investiert wird und was bedeutet das wirtschaftlich und was für Deutschlands Außenpolitik?

Die Versprechungen klingen gut, während die Politik immer aggressiver wird. Die Bundesregierung spricht viel von Frieden, Freiheit und Demokratie und rüstet zugleich hemmungslos auf. In den letzten Jahren wurde der sogenannte Verteidigungsetat, der Einzelplan 14, wird weiter dramatisch wachsen: Deutschland kauft atomwaffenfähige F-35-Militärjets des US-Herstellers Lockheed Martin, zudem neue Kampfdrohnen. Gemeinsam mit Frankreich werden neue FCAS-Kampfflugzeugsysteme und neue Kampfpanzer entwickelt.

Diese Hochrüstungspolitik wird uns hierzulande in den kommenden Jahren schwer zu schaffen machen, da das Geld an anderer Stelle fehlen wird. Wenn die von Sozialdemokraten, GRÜNEN und freien Demokraten geführte Bundesregierung auf der einen Seite die Militär- und Rüstungsausgaben in unglaublicher Weise erhöht, dann wird auf der anderen Seite der Medaille Geld fehlen für Bildung und für Erziehung, für Pflege und Gesundheit, für Kunst und Kultur, für die regenerative Energiewende und für eine zukunftsorientierte Transformation der Industriegesellschaft.

Kann man sagen, Deutschland wird in Zukunft militärisch ein gefährliches Land?

Ich unterstelle der Bundesregierung auch unter Führung des Hochrüstungskanzlers Olaf Scholz nicht, dass sie – wo auch immer – von sich aus einen völkerrechtswidrigen Krieg inszenieren wird. Das wäre ein unvorstellbarer Buch, wie wir ihn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht kennen. Auf der anderen Seite trägt die immense Aufrüstung der Nato zur Destabilisierung der Situation in Richtung Eurasien bei, weil sich die gegnerischen Länder Russland und China noch mehr bedroht fühlen. Schon heute investiert die NATO rund sechzehn Mal so viel Geld für Rüstung und Militär wie Russland. Zwar sprechen wir von der „Supermacht Russland“, militärisch gesehen ist Russland aber keine überragende Supermacht im konventionellen Bereich. Genau das macht diesen Krieg mit der Ukraine so extrem gefährlich. Sollte sich eine Niederlage Russlands abzeichnen, z.B. aufgrund fortgesetzter umfassender Waffen- und Munitionslieferungen der NATO, dann droht die Atommacht Russland zuzuschlagen. Dagegen sind alle Gespräche, Verhandlungen und diplomatischen Bemühungen tausendmal besser.

Seit Wochen haben wir in Deutschland eine aktive Friedensbewegung, Hunderttausende gehen auf die Straßen. Wie bewerten sie diese Aktionen?

Zuerst einmal ist es gut, wenn die internationale Friedensbewegung weltweit dafür protestiert, dass das Völkerrecht international geachtet wird. Alle Kriegsverbrechen, in diesem Fall von Vladimir Putin, seiner Regierung und der Generalität, müssen vor einem internationalen Strafgericht zur Verantwortung gezogen werden.

Wir brauchen aber weitere friedensschaffende Maßnahmen. Rüstungsexporte müssen endlich gestoppt werden, denn mit ihnen wird der Russland-Ukraine-Krieg massiv eingeheizt. In Deutschland wäre die Verabschiedung eines neuen, äußerst scharfen Rüstungsexportkontrollgesetzes unser Ziel. Die deutsche Friedensbewegung fordert: Die Grenzen müssen geöffnet werden für Menschen und geschlossen werden für Waffen. Allen schutzsuchenden Journalisten, Kreisdienstverweigerern, Friedensdemonstranten, Deserteuren – sowohl aus Russland als auch aus der Ukraine – muss geholfen werden. Unsere Zielvorgabe ist sehr klar: Wir setzen nicht auf das Militärische, sondern auf eine friedliche Revolution. Wir haben in Deutschland an diesem Punkt eine wunderbare Historie. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre wurde unser Land gewaltfrei und friedlich wiedervereinigt, wohlgemerkt ohne einen einzigen Toten. Gewaltfreie Konfliktlösungen sind vielfach erfolgreicher und weniger todbringend als die kriegerische Konfrontation. Das setzt allerdings voraus, dass das ukrainische Volk dies von sich aus auch will.

Nach Ende meiner Rede vor dem Bundestag wollte ich bis zur Berliner Siegessäule vordringen, was nicht möglich war. Mehrere hunderttausend Menschen demonstrierten für Frieden. Leider hatte ich Pech, denn ich landete in eine Gruppe ukrainischer Ultranationalisten und radikaler „Patrioten“. An der Stelle fand keine Friedensdemonstration statt, denn diese Ukrainer forderten die militärische Unterstützung des Krieges in der Ukraine, den Schutz des ukrainischen Luftraums, möglichst viele Waffenlieferungen und ein sofortiges Eingreifen der NATO.

Vergeblich warnte ich diese Ukrainer: Wenn das geschähe, könnte die unsererseits befürchtete finale Eskalation eintreten. Durch das direkte Aufeinandertreffen des NATO-Militärs und des russischen Militärs entstünde eine unwägbare Situation. Russlands Militär würde sich vom weitaus größeren NATO-Militär angegriffen fühlen, dann wäre nicht einmal ein Atomkrieg auszuschließen.

Die Türkei möchte ein Vermittler sein zwischen Russland und der Ukraine, die beiden Außenminister sind in die Türkei gereist. Auf der anderen Seite verkauft die Türkei bewaffnete Drohnen (Bayraktar-TB2) an die Ukraine und hat gute Beziehungen mit Russland. Wie bewerten sie die Stellung der Türkei und der Drohnen?

Äußerst ambivalent. Friedensverhandlungen sind jederzeit zu begrüßen. Dass sie allerdings nicht auf neutralem Boden stattfinden sollen, z.B. auf Einladung von UN-Generalsekretär António Guterres in Genf, sondern in der Türkei, empfinde ich als problematisch. Wir alle wissen, wie schlecht es vielen Kurdinnen und Kurden und auch kritischen Journalisten in der Türkei ergeht. Wir wissen, dass die Türkei wiederholt mit deutschen Leopard-II-Panzern völkerrechtswidrig im Nordirak interveniert hat. Und wir wissen, dass die Türkei eine der führenden Nationen bei der Produktion und dem Export von Kampfdrohnen ist. Die Bayraktar-TB2-Drohne wird nach Europa, Afrika und Asien verkauft. Auch an die Ukraine, nahe an der Grenze zu Russland. Aber auch in Turkmenistan und Afrika, Marokko und Tunesien, Libyen und Niger und Äthiopien sind diese Killerdrohnen im Einsatz. Die Zahl der Länder, die neue Kampfdrohnen haben wollen, reicht von Großbritannien bis Lettland im Baltikum, also auch direkt an die russische Grenze. Außerdem an Kasachstan, desgleichen an der Grenze zu Russland gelegen, und weiter bis nach Nigeria, Mali, den Irak und Pakistan. Die Türkei ist eine aggressiv agierende Militärmacht, die durch den Export von Militärdrohnen weltweit nach mehr Einfluss strebt.

Noch eine ergänzendes Faktum zu den türkischen Drohnen der Firma Baykar mit Sitz in Istanbul: Diese Kampfdrohnen sind dann erfolgreich, wenn sie über „Argus-2“ verfügen. Dieses Zielerfassungssystem wird von der deutschen Firma Hensoldt in Südafrika produziert. Die Hensoldt AG hat sich mit der Verlagerung des Firmensitzes der deutschen Rüstungsexportkontrolle entzogen. Die Bundesregierung besitzt einen Anteil von rund 25 Prozent an der Firma. Sie hätte somit die Exporte in Krisen- und Kriegsgebiete unterbinden können. Da sie es nicht getan hat, macht sich mitschuldig an den Exporten und dem militärischen Einsatz dieser bewaffneten Drohnen in Krisen- und Kriegsgebieten. Zur Erinnerung: Noch vor einem Jahr herrschte Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Die aserbaidschanische Armee setzte Bayraktar TB 2 ein und siegte.

Diese neue Achse der türkisch-deutschen Militärbrüderschaft lehnen wir Pazifisten und Antimilitaristen strikt ab – lasst uns besser bei Friedens-, Entwicklung- und Kulturprojekten zusammenarbeiten.


Jürgen Grässlin

ist Initiator des GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE (GN-STAT), Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.).

Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter internationale Bestseller. Grässlin wurde mit bislang zehn Preisen für Frieden, Zivilcourage, Medienarbeit und Menschenrechte ausgezeichnet.

Weitere Informationen siehe www.jurgengraesslin.com > Buchautor zu „Versteck dich, wenn sie schießen“. FALL 01 des GLOBAL NET analysiert die deutschen Waffenlieferungen an das frühere Osmanische Reich und den Genozid an den Armeniern in englischer, türkischer, armenischer und deutscher Sprache, siehe https://www.gn-stat.org/?p=677

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