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Marburg: Flip the switch – 100 Mrd für die Jugend

Cansu Budak

Das Studierendenparlament hat am 19. Januar 2023 eine studentische Vollversammlung einberufen und es wurde eine Resolution verabschiedet. Rund 150 Studierende der Philipps-Universität-Marburg haben teilgenommen, diskutiert, sich ausgetauscht und ihre Forderungen gemeinsam und entschlossen zusammengetragen. Diese wollen sie auch auf die Straße bringen. Yusuf Karaaslan (Die Linke.SDS) hat als Vorstandsmitglied des Studierendenparlaments unter anderem die Veranstaltung moderiert. Wir hatten die Gelegenheit, mit ihm ein Gespräch zu führen.

Ihr habt heute eine studentische Vollversammlung einberufen. Was war der Anlass dafür?

In großen Teilen der Bevölkerung stehen viele vor dem Absturz oder sind es bereits. Allerdings sind Studierende seltener organisiert in ihren Interessenvertretungen und es ist die Erzählung verbreitet, dass es einem nach dem Studium ja mit einer guten Qualifikation bestimmt besser gehe. Diese Hemmnisse für die eigenen Rechte einzutreten, gehen einher mit der sozialen Lage der Studierenden: Zum Semesterbeginn hatten wir studentische Obdachlosigkeit in Marburg, wo Personen tagsüber in der Bibliothek geschlafen haben. Die Mietpreise in Wohnheimen vom Studentenwerk sind gestiegen – die Mensapreise sind gestiegen, der Semesterbeitrag steigt und das alles neben den allgemeinen Preiserhöhungen. Weil eine unorganisierte Studierendenschaft sich nicht wehren kann, haben wir vorgeschlagen zusammen zu kommen und über die soziale Frage zu diskutieren.

Warum habt ihr das Motto „Flip the switch – 100 Mrd. für die Jugend“ gewählt?

Wir möchten den Schalter umlegen und fordern einen Politikwechsel. Wir nehmen folgende zwei Richtungen wahr. Von Seiten der Bundeswehr z.B. André Wüstner (Vorsitzender Deutscher Bundeswehrverband und Oberst in der Bundeswehr) wird eine Umstellung auf Kriegswirtschaft und der rasanten Bau von Munitionsfabriken gefordert. Gleichzeitig werden an der Universität Marburg wegen gravierender Unterfinanzierung Fächer zusammengespart, Stellen bleiben unbesetzt und Duschen in den Turnhallen der Schulen geben nur kaltes Wasser her. Es ist eine politische Richtungsentscheidung entweder in die zivile und humane Bildung zu investieren oder in Munitionsfabriken mit z.B. den 100 Mrd. Euro „Sondervermögen“ der Bundeswehr, die nichts anderes sind als Kriegskredite. Wir stehen für eine zivile Zeitenwende und sagen: Wir brauchen keine individuellen Spartipps beim Duschen oder debile YouTube-Videos, wo uns verantwortliche Politiker zeigen, wie man sich wäscht. Der Kampf um die Wissenschaft, Bildung und Kultur ist der Kampf um die Deutung der aktuellen Krise als polit-ökonomische und damit überwindbare Krise statt der versuchten Verklärung als Naturkatastrophe oder Kriegsrhetorik. Raus aus der Krise heißt raus aus dem Neoliberalismus.

Aus welchem Grund verbindet ihr eure sozialen Forderungen mit den aktuellen Rüstungsausgaben? Was haben die Dinge miteinander zu tun?

Nicht wir verbinden diese beiden Punkte, sondern die Habecks, Scholz und Baerbocks tun das. Mit Dusch- und Kleidungstipps soll von den Profiteuren des Krieges und der sozialen Verwerfung durch explodierende Energiepreise abgelenkt werden. Aktuell werde die „Freiheit“ in der Ukraine verteidigt, zuvor war es Afghanistan. Mit diesem Mythos wurde die 100 Mrd. Euro Aufrüstung durchgesetzt. Wir werden aufs Frieren im Winter vorbereitet und „alle“ sollen sparen, selbst diejenigen, die nichts zu sparen haben. Die neoliberalen Parteien (die Grünen, SPD, CDU, FDP und AfD) – ob in den Regierungen oder im Wartestand – versuchen auf diese Weise, die Bevölkerung in den globalen Wirtschaftskrieg einzubeziehen und Ruhe an der „Heimatfront“ herzustellen. Wegen der aktuellen Kriegspolitik und sozialer Kälte steigen die Mensa-, Wohn- und Essenspreise. Deshalb stehen wir für einen Politikwechsel, der sich gegen die sozialen Verwerfungen und dem Krieg wehrt.

Zu Beginn haben viele Studierende über ihre Erfahrungen und Probleme geredet. Was kam dabei auf?

Es wurde schnell deutlich, dass eigentlich alle Studierenden ähnliche Probleme haben: Stress mit dem Vermieter, stressige Nebenjobs neben einem stressigen Online-Studium, wenig kritische Lehre und dazu vor großen Geldsorgen stehen, wegen zu wenig oder nicht bewilligtem Bafög. Daher haben wir auf der Vollversammlung ganz klar die herrschende Politik verantwortlich gemacht. Entgegen des Leistungsdogmas, dass man sich mehr anstrengen müsse oder zu hohe Erwartungen an ein Studium habe, wurde das Gegenteil deutlich: Wenn nämlich alle mit denselben Problemen geplagt sind, kann es ja schwierig das individuelle „Fehlverhalten“ von einzelnen Studierenden sein. Es zeigt auf, dass ein sinnvolles Lernen (statt Pauken) unter diesen Umständen nicht möglich ist. Dabei ist es die Aufgabe der Wissenschaft und der Studierenden eine komplexe Auseinandersetzung mit den Menschheitsproblemen der Zeit, wie der Naturzerstörung und Klimawandel, sowie dem Krieg in der Ukraine zu widmen. Das ist unter solchen Bedingungen unmöglich.

Was wurde dann konkret beschlossen und was passiert in Zukunft damit?

Die sozialen Kämpfe dauern an und darin möchten wir uns als Studierende stärker einbringen. Doch dazu müssen wir als Studierende mit unseren Kommilitoninnen und Kommilitonen die Interessenvertretung der Studierendenschaft revitalisieren. Dazu gehört auch die Studierenden als einen Teil der großen Mehrheit dieser Bevölkerung zu sehen, die unter der aktuellen Politik leidet. Deshalb hat ein Medizinstudent eingebracht, dass wir uns um das einzige private Uniklinikum Gießen-Marburg rückführen müssen in öffentliche Hand. Dafür kämpfen wir als Studierende mit den Beschäftigten. Ein entprivatisiertes Uniklinikum schafft bessere Bedingungen für Forschung und Lehre, ein kostenloser ÖPNV senkt aktiv den Semesterbeitrag – und ein Bafög für Alle sichert besonders Arbeiterkindern das Recht auf vollumfängliche Bildung. Wir bringen uns ein in die Kämpfe der GEW und Ver.di gegen Befristungsketten und Projektmittelfinanzierung der Beschäftigten an den Unis: Dauermittel für Daueraufgaben! Da wir für unsere eigene Rechte einstehen müssen, weil es sonst niemand macht, haben wir beschlossen zuallererst zum Besuch von Olaf Scholz (SPD, Bundeskanzler) am 2. Februar 2023 in Marburg für unsere Forderungen zu protestieren. Nur so können wir uns Gehör verschaffen, denn wir haben nicht den jetzigen Einfluss auf die Politik wie Energie-, Rüstungs- und Stromkonzerne durch Lobbys. Deshalb organisiert der AStA ein gemeinsames Schilder-Malen, wir demonstrieren und bringen uns in diesen sozialen Auseinandersetzungen stärker ein.

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