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Mehr braucht Mehr: „Reden ist Silber, Streiken ist Gold!“

Sidar Carman

Vor der dritten Verhandlungsrunde für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst kurbelt die Gewerkschaft ver.di den Arbeitskampf in den Kitas, den sozialen Diensten und der Behindertenhilfe deutlich an. Ver.di fordert für die rund 330.000 kommunalen Beschäftigten der Kitas, der sozialen Dienste und der Behindertenhilfe höhere Löhne (Anerkennung), mehr Entlastung und mehr Fachpersonal. Da private oder freie Träger sich i.d.R. auch an dem Tarifabschluss orientieren, umfasst der Tarifkonflikt einen größeren Beschäftigtenkreis. Es geht letztendlich um insgesamt 1,6 Millionen Beschäftigte, die sich tagtäglich um Kinder, Jugendliche und Menschen in sozialer Not kümmern, die Unterstützung und Hilfe benötigen.

Bereits Ende März scheiterte die zweite Verhandlungsrunde ohne Annäherung. Zentrale Themen der Tarifrunde 2022 sind die Anerkennung über materielle Aufwertung, Entlastung und Maßnahmen gegen Personalmangel. Auf die Forderung nach mehr Entlastung, kam der prominent gewordene Vorschlag der Arbeitgeber, den Beschäftigten eine Massage in der Mittagspause anzubieten und löste zurecht eine Empörungswelle weit über den Verhandlungstisch hinaus. Das Auftreten der Arbeitgeber wurde Thema der Streikkundgebungen und beschriftete selbstgemalte Schilder und Transparente: „Das Angebot der VKA (Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände) ist unter aller Sau“, „Massage – gebt uns erst einmal die Mittagspause!“ oder „Wir sind in Rage, wir wollen nicht nur eine Massage“.

Hohe Anforderungen – wenig Anerkennung

Der Arbeitsalltag von ErzieherInnen verlangt viele Anforderungen ab. Mal müssen sie motivieren, mal schlichten, mal verwalten, mal kochen, mal trösten, mal helfen und immer erziehen. Eine Arbeit, die dann extrem anstrengend wird, wenn man nicht zwei oder drei, sondern gleich zehn oder sogar mehr Kinder begleiten, bilden und erziehen muss. Personelle Unterbesetzung bzw. zu viele Kinder pro Fachkraft sind ein verbreitetes Problem in der Kita-Landschaft.

Wer heute eine Zeitung aufschlägt und nach den Stellenanzeigen schaut, sieht vor allem drei Arten von offenen Stellen: Pflege, Kita und soziale Arbeit.

Auf 5 offene Stellen in der Sozialarbeit gibt es nur eine Bewerbung, in Baden-Württemberg alleine fehlen akut 27.000 pädagogische Fachkräfte in den Kitas. 2026 wird der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule eingeführt, was den Personalmangel noch weiter verschärfen wird. Eine andere Erhebung kommt zu dem Schluss, dass bis 2030 30.000 – 40.000 pädagogische Fachkräfte fehlen werden.

Verzicht kann keine Option sein

Ich will noch nicht aufgeben. Ich will weiterhin als Erzieherin arbeiten und dafür bin ich bereit zu streiken“, ruft eine Beschäftigte ins Mikrofon auf der Streikkundgebung im Bezirk Stuttgart. Sie streikt und hält ihre allererste Rede vor Publikum. Das Selbstbewusstsein bei den Streikenden ist gestiegen. Sie organisieren, planen und gestalten mit viel Kreativität, die sich auch auf den Schildern widerspiegelt. So wird aus einer klassischen Redewendung zu einem Streikschild umformuliert: „Reden ist Silber, Streiken ist Gold!“. Die Redebeiträge von Streikenden auf den Kundgebungen nehmen zu. Sie prangern offen und ohne Umschweife die unzureichende Betreuungssituation, die dauerhafte Überbelastung an. Die Streiks zeigen spürbare Wirkungen. So blieben bundesweit viele Einrichtungen vollständig zu. Anders als in der Tarifrunde 2015 gibt es von Elternbeiräten mehr Verständnis und Unterstützung für die Forderungen der ErzieherInnen, denn „Zufriedene Erzieher, zufriedene Kinder“, wie es auf einem Plakat von demonstrierenden Eltern heißt. In anderen Städten und Gemeinden initiieren Elternbeiräte einen offenen Brief an die (Ober-) Bürgermeister, die Forderungen der ErzieherInnen ernst zu nehmen.

Stärke organisieren

Die Frage, welchen Radius die Streikdynamik bei Ver.di-Mitgliedern als auch bei nicht gewerkschaftlich organisierten Streikenden aufspannt, benötigt noch eine gründliche Analyse und Datenauswertung. Doch zumindest für viele Streiks lassen sich zwei Tendenzen feststellen: Erstens, die Streiks werden – besonders in den Großstädten – von gewerkschaftlich organisierten Mitgliedern getragen. Zweitens, der Druck die gewerkschaftliche Streik- und Durchsetzungskraft in breiteren Bereichen zu organisieren, d.h. mehr Beschäftigte gewerkschaftlich zu organisieren, erweitert den Blick und die Streikplanungen auf jene Regionen und Bereiche, in denen die Gewerkschaften schwach aufgestellt sind. Mit der Folge, dass in diesen Regionen die Zahl der nicht Ver.di Mitglieder unter den Streikenden nicht gering ist. Sie prangern die unrechten Arbeitsbedingungen an und sind sich bewusst, dass sie „etwas tun“ müssen. Gleichzeitig schlagen sich die finanziellen Sorgen – angetrieben durch die Folgen der Pandemie und des Kriegs – in den Gesprächen durch. Der Unmut über die schlechte Bezahlung und belastenden Arbeitsbedingungen ist gewachsen. Auch wenn noch abzuwarten gilt, wie sich die Streikbeteiligung und Zusammensetzung der Streikenden in Zahlen abbildet, so macht sie jetzt schon die Verantwortung der Gewerkschaften gegenüber den Erwartungen und Streikbereitschaft ihrer Mitglieder und Nicht-Mitglieder deutlich.

Unmittelbar vor der dritten und vorerst letzten Verhandlungsrunde für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst werden vom 9.-12.5.2022 bundesweit zu großen Streiks aufgerufen. Es ist davon auszugehen, dass der Kampf um Anerkennung auch danach fortgesetzt wird – und damit auch die Streikbewegung.

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