Yücel Özdemir
Wir haben mit der Spitzenkandidatin der Partei Die LINKE Özlem Alev Demirel über den Europawahlkampf gesprochen.
Wofür steht die Linke in Bezug auf die EU?
Wir als Linke kämpfen für eine andere Politik innerhalb der Europäischen Union. Wir kritisieren, dass die Interessen und Freiheiten des Kapitals und des freien Marktes immer über soziale Belange gestellt werden. Mit dem EU Binnenmarkt wurde ein Lohn und Steuerdumpingwettbewerb im Interesse der Großkonzerne ermöglicht. Damit muss Schluss sein. Es muss endlich eine Mindestregelung zur Konzernbesteuerung europaweit geben. Wir fordern auch, dass in jedem Mitgliedsstaat der EU ein Mindestlohn von 60 Prozent des mittleren Durchschnittseinkommens eingeführt wird, damit eben alle Menschen vor Armut geschützt sind. In Deutschland wären das 12 Euro. Die Schere zwischen arm und reich klafft innerhalb der EU stark auseinander. Wir haben immer mehr Menschen, die von Armut betroffen sind. Jeder Fünfte innerhalb der EU und auch in Deutschland ist von Altersarmut bedroht oder betroffen. Das ist ein Skandal, weil wir an jeder Stelle hören, dass Europa doch ein Hort des Wohlstandes sei und tatsächlich die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Profitiert hat aber eine kleine superreiche Minderheit und die Wirtschaft hiervon. Zusammengefasst geht es uns um soziale Errungenschaften, Menschenrechte, den nachhaltigen Umgang mit unserer Umwelt und Abrüstung statt Aufrüstung.
Wie kommen diese Forderungen bei der Bevölkerung an und wofür stehen die anderen Parteien?
Viele Menschen regen sich darüber auf, dass man als normaler abhängig Beschäftigter automatisch vom Gehalt die Lohnsteuer abgezogen bekommt aber international agierende Riesenkonzerne, die Milliardengewinne eintreiben, sich Steuerschlupflöcher innerhalb der EU suchen können. Die Wut ist berechtigt und sie wünschen sich auch eine andere Politik. Nun, ja, richtig: Steuerpolitik wird auf nationalstaatlicher Ebene gemacht, das stellen wir als LINKE auch nicht in Frage. Aber ein riesen Binnenmarkt wurde geschaffen und im Primärrecht der EU wurden ausschließlich Freiheiten der Wirtschaft festgelegt: die Arbeitnehmer-Freizügigkeit und der freie Verkehr von Waren, Kapital und Dienstleistungen. Wir wollen aber, dass soziale Belange der Menschen im Primärrecht verankert sind. Das schließt Losungen wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort ebenso mit ein – die wir übrigens letztes Jahr als LINKE erfolgreich in die Entsenderichtlinie durchgesetzt haben, soziale Mindeststandards oder Mindestbesteuerung von Konzernen mit ein. Mit der Änderung der Entsenderichtlinie kann es Tariftreuegesetze in Deutschland geben, das heißt, dass Unternehmen, die öffentliche Aufträge kriegen, keine Löhne zahlen, die unterhalb von Tarifstandards sind. Das sind einige konkrete Beispiele wofür die LINKE kämpft. Ich glaube, dass diese Forderungen in der Bevölkerung auch breit getragen und geteilt werden
Wenn die Rechten stark werden, dann wäre Europa in Gefahr. Was denken Sie dazu?
Wir kritisieren die Nationalisten und autoritären rechten Kräfte wie Salvini, Orban und Co scharf, weil wir diese Politik ablehnen und im Grundsatz internationalistisch ausgerichtet sind. Der Punkt ist jedoch, dass es mit einem abstrakten Bekenntnis wie „mehr Europa“ von der SPD nicht getan ist. Es geht ja darum, welche Politik konkret durchgesetzt wurde und da kann man zwei Sachen sagen: Erstens zeigt die Asyl- und Migrationspolitik der EU, dass sie Werte wie Aufklärung, Humanität, Fortschritt oder Nächstenliebe mit Füßen tritt, wenn sie mit lybischen Warlords zusammen arbeitet oder einen Flüchtlingspakt mit Präsident Erdogan macht. Man muss diese Politik ändern und nicht irgendwelche Bekenntnisse abgeben. 2. Gehört zur Wahrheit, dass wir auch auf europäischer Ebene quasi eine große Koalition haben, die über Jahre hinweg das neoliberale Dogma vorangetrieben hat. Mit dem Verweis auf die europäische Konkurrenz wurde beispielsweise in Deutschland eines der größten Niedriglohnsektoren europaweit geschaffen. SPD Kanzler Schröder verkündete das mit Stolz. Wer aber den autoritären Rechten und Rechtspopulisten Einhalt geben möchte, der muss ihnen auch den Nährboden entziehen. Rechtspopulisten spielen Menschen gegeneinander aus, in dem sie als Ursache für soziale Ungerechtigkeiten die Migranten zeigen. Dass das völliger Quatsch ist, wissen wir, aber um denen die Propaganda zu nehmen, muss man auch etwas gegen diese sozialen Missstände unternehmen. So brauchen wir auch eine Bremse für prekäre Beschäftigung innerhalb der EU. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen unter befristeten Verträgen und Leiharbeit und unter Lohndumpingpreisen arbeiten. Doch statt dieser Themen priesen Frau Merkel, Frau Kramp-Karrenbauer und Herr Macron als Vision für die EU, eine sogenannte Verteidigungsunion an. Hier geht es aber im Kern nicht um Verteidigung, sondern um eine Militärunion, Subventionen für die Rüstungslobby und große Rüstungsprojekte – einschließlich autonomer Waffensysteme.
Wie kam es zum Brexit?
Wenn man über den Brexit redet, dann muss man auch über dessen Ursachen reden. Die Losung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ haben wir als LINKE schon immer nach vorne gestellt. Die hätte von Anfang an kommen müssen, dann hätte man nämlich nicht die Situation gehabt, dass Rechtspopulisten in Großbritannien mit dem Verweis auf Migranten die Menschen gegeneinander ausspielen können. Das wäre eine effektive Maßnahme gewesen. Jetzt muss es darum gehen, dass sozialverträgliche Losungen und Lösungen im Sinne der Armen und abhängig Beschäftigten durchgesetzt werden – egal ob in der EU oder Großbritannien.
Was ist Ihre EU-Vision?
Anders als die anderen Parteien egal ob SPD, CDU, FDP oder auch die Grünen, möchte ich wirklich für Frieden, statt Aufrüstung kämpfen. Ich stehe für ein Europa der Menschen. Frau Kramp-Karrenbauer hat als große Vision für die EU einen deutsch-französischen Flugzeugträger genannt. Ich glaube nicht, dass Millionen Europäer auf diesen Flugzeugträger gewartet haben. Auf der anderen Seite wurden regionale Förder- und Sozialprojekte gekürzt wurden und auf der anderen Seite der europäische Verteidigungsfonds eingerichtet. Es gibt PESCO und Military Mobility. Es sollen Milliardensummen ausgegeben werden für Rüstungsforschung, Killerdrohnen, eine europäische Armee zusätzlich zu den nationalen Armeen oder Investitionen in panzerfeste Straßen und Brücken. Doch mit Aufrüstung trägt man nicht zur Sicherheit bei, sondern immer mehr Unsicherheit in die Welt. Ein konkretes Beispiel: statt 6,5 Milliarden Euro in panzerfeste Straßen, würden wir dieses Geld gerne in den Personenverkehr (Bahne und Busse) stecken und damit Mobilität für Menschen gewährleistet, aber auch unsere Umwelt nachhaltig schonen. Statt Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen, möchte ich Fluchtursachen bekämpfen. Ich möchte für eine Gerechtigkeitswende streiten und das kann es geben, wenn Menschen sich zusammenschließen und für ihre Belange gemeinsam einstehen.
Gibt es eine Diskussion über die Zukunft der EU in der Linken?
Wir stehen für ein anderes, gerechtes, friedliches Europa und nicht für die EU der Konzerne. Natürlich ist es wichtig, dass DIE LINKE, die für solch eine Haltung und diese Forderungen einsteht, stark bei Wahlen abschneidet. Doch welche unserer Forderungen sich im Endeffekt durchsetzen können, hängt auch davon ab, wie viel Bewegung wir auf der Straße haben, wie stark man diese Bewegung nach vorne bringen kann. Ich kann sagen, dass wir uns als Linke sehr darüber freuen, dass junge Menschen bei Fridays for Future für eine nachhaltige Umweltpolitik auf die Straße gehen, auch die Seebrückenbewegung, die für eine humane Migrationspolitik einsteht oder tausende Menschen für bezahlbaren Wohnraum demonstriert haben. Das alles baut Druck auf, verändert das Bewusstsein und bringt auch Bewegung in die Debatte. Wenn wir diese Bewegungen stärken, können wir auch parlamentarisch konkrete Forderungen schneller durchsetzen.
Kann man also sagen, dass Sie eine Stimme der Protestbewegungen sein wollen?
In meiner Bewerbungsrede habe ich gesagt: Europa, das ist für mich die Seebrücke, die Kolleginnen und Kollegen von Amazon und Rynair, die über nationale Grenzen hinweg Arbeitskämpfe geführt haben, die Schülerinnen und Schüler die Freitags auf die Straße gehen oder die Mieterinnen und Mieter, die in verschiedenen Ländern Europas für bezahlbaren Wohnraum kämpfen. Ich weiß also, wo mein Platz ist und aus welcher Brille ich in die Welt schaue. Es ist doch wichtig, zu sehen, dass überall in der Welt verschiedene Kämpfe stattfinden; z.B., wo man nicht nationale Identitäten nach vorne stellte, sondern die Forderung nach anständigen Löhnen für alle Kollegen, überall. Das ist etwas Schönes und genau das muss unser Ansatz sein – mit den Menschen gemeinsam für ihre Forderungen einstehen. Ich möchte in dieses europäische Parlament, nicht, weil ich glaube, dass man lediglich im Parlament die Welt verändern kann, schon gar nicht im Europaparlament, sondern weil ich dort aufklären möchte, was dort auch tatsächlich diskutiert wird und dann auch mit den Menschen gemeinsam Bewegungen stärken und mit ihnen gemeinsam Veränderungen herbeiführen möchte.
Nach welchen Kriterien sollten insbesondere türkeistämmige Wähler zur Wahlurne gehen?
Ich finde es wichtig, deutlich zu machen, dass man zur Wahl geht und dabei genau jene Kräfte stärkt, die immer mit ihnen gemeinsam für ihre Forderungen einstehen und an der Seite der Bewegungen stehen. Zum Beispiel im Bereich bezahlbarer Wohnraum hat die LINKE seit Langem Kampagnen durchgeführt. In Berlin wird ja sogar über die Enteignung von großen Immobilienkonzernen diskutiert und die LINKE hat einen großen Beitrag dazu geleistet. Auch im Bereich der Pflege hat die Linke mit einer Kampagne unterstützt und auch im Parlament versucht, ihre Forderungen hörbar zu machen. Es geht darum, diese Kräfte zu stärken. Es geht nicht darum, nach der Hautfarbe, Herkunft oder Religion eines Menschen zu wählen, sondern für bestimmte Forderungen nach vorne zu schauen und diese zu stärken. Und die LINKE kämpft glaubwürdig gegen Rassismus und Nationalismus und für eine sozialere, ökologischere Politik sowie für Menschenrechte überall und an jedem Ort.