Written by 08:00 DEUTSCH

Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt, und auch nichts getan?

Dirim Su Derventli

268 Minuten und 46 Sekunden lang kniete ein Polizist ungehindert auf George Floyds Nacken, der mit seiner letzten Kraft etliche Male wiederholte, dass er nicht atmen könne. Die anderen drei Beamten im Einsatz sahen zu, wie George Floyd stranguliert wurde und schließlich starb. In keiner Sekunde schritten sie ein. Der Verdacht, dass er gefälschtes Geld nutze und den Ladenbesitzer betrügen wollte, konnte bis heute nicht bestätigt werden. Polizeigewalt mit tödlichen Folgen gibt es in den USA fast täglich. Im gesamten Jahr 2019 zählen die Statistiken nur 29 Tage, an dem kein Mensch von der Polizei in den USA erschossen wurde, hochgerechnet ist das 92% des Jahres! Und doch gibt es keine eindeutigen Zahlen, wie viele Menschen anderer Hautfarbe oder mit Migrationshintergrund tatsächlich Betroffene von Polizeigewalt sind, denn vollständige Statistiken der Behörden gibt es nicht. Fälle wie George Floyd bekamen ihre Aufmerksamkeit, weil andere Menschen diese filmten und veröffentlichten. Wie hoch die Dunkelziffer ist, kann man sich nur schwer erschließen. Dabei sind die meisten Tötungsdelikte laut Amnesty International nie im Einklang mit internationalen Rechtsstandards, und entsprechen nicht einmal der US-Rechtsprechung. Wieso passieren sie dann so häufig? Das System ist fehlerhaft, denn die Ermittlungen finden intern statt. Das bedeutet, die Staatsanwaltschaft soll einerseits die Polizei zur Verantwortung ziehen und gleichzeitig eine gute Beziehung zu ihr aufrechterhalten. Rassismus wäre kein gutes Image für zwei Behörden, die täglich so eng zusammenarbeiten. Es bildet sich ein Widerspruch und interne Ermittlungen finden häufig kein Ende bzw. die Täter werden nicht bestraft. Hieraus entwickelt sich die Forderung nach unabhängigen Beschwerdestellen und Untersuchungskommissionen. Eine Forderung, die es auch in Deutschland gibt.

Rassismus bei der deutschen Polizei?
Als Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Studie zu Racial Profiling innerhalb der Polizei lauthals abgesagt hat, weil es keinen Bedarf gäbe, ging ein Staunen durch die Gesellschaft. Wieso sollte man eine wissenschaftliche Studie unterlassen, die die Wahrheit ans Licht bringen soll? Natürlich hat der Innenminister auf diese Frage eine Antwort: Rassistische Polizeipraktiken wie Racial Profiling seien schlicht und ergreifend verboten und dann könne so etwas auch gar nicht passieren. Man könnte meinen Seehofer wäre ignorant, doch diese Entscheidung ist bewusst. Denn wenn erst einmal Zahlen herauskämen, die die berechtigten Vorwürfe von Betroffenen bestätigen würden, dann müsste sich das Innenministerium nicht nur kritisch mit der Polizei beschäftigen, sondern auch mit sich selbst. Unvorstellbar für die deutsche Regierung, wenn eine wissenschaftliche Studie herauskommen würde, die bestätigt, wie sich der Rassismus innerhalb der deutschen Behörden festgesetzt hat. Aber Horst Seehofer wäre nicht Horst Seehofer, wenn er nicht noch eins oben drauf packen und nach einer Studie über Gewalt an Polizeibeamte verlangen würde. Denn der sogenannte Heimatminister (das Ministerium hat er übrigens in seiner Wahlperiode kurzerhand umbenannt) drehte einfach den Spieß herum, und stellt Polizeibeamte als Opfer von randalierenden Migranten dar, die schutzbedürftig seien. Dabei muss man unbedingt betonen, dass gerade hier in Deutschland nur 2% der Polizisten Strafen erhalten haben, dafür wurden aber 92% der Verfahren eingestellt. Zivile hingegen werden fast immer strafrechtlich verfolgt. Denn auch in Deutschland wird intern ermittelt und die Staatsanwaltschaft geht Hand in Hand mit der Polizei. Als Beispiel: Oury Jalloh, der 2005 in seiner Gefängniszelle in Dessau, Sachsen-Anhalt verbrannte, soll sich laut Polizeiberichten selbst angezündet haben – obwohl er gefesselt und fixiert worden war. Die ersten Obduktionsberichte bestätigten zunächst die Aussagen der Polizei und die Staatsanwaltschaft lehnte weitere Obduktionen, die von der Anwältin der Nebenanklage beantragt worden waren, ab. Später kamen schwerwiegende Schädelfrakturen, Brüche im Nasenbein und verletzte Trommelfälle ans Licht, die laut Rechtsmedizin durch Fremdeinwirkung passiert sein müssen. Zu diesem Zeitpunkt ging die Staatsanwaltschaft immer noch davon aus, dass Jalloh sich selbst angezündet habe. Die Polizisten wurden beim Prozess 2008 freigesprochen. Der Richter begründete sein Urteil als „einfach nur ein Ende, das formal sein musste.“ – obwohl er unter anderem von Falschaussagen wusste. Neue Ermittlungen wurden 2014 aufgenommen, die bis heute noch nicht ans Ende gekommen sind.

Racial Profiling: Heute schon einen Kanacken kontrolliert?
Man ist unterwegs und wird plötzlich einer „rein routinierten“ Polizeikontrolle durchzogen. Komisch, eigentlich gibt es keinen Anlass dazu und seltsamerweise werden die deutsch-aussehenden Kollegen nicht kontrolliert. Das Ganze kann bis zu (Haus-)Durchsuchungen oder sogar Verhaftungen gehen. Was passiert hier? Racial Profiling braucht keinen konkreten Verdacht oder eine ausgehende Gefahr, um Personalien zu prüfen oder Leibesvisitationen durchzuführen. Allein die äußeren Erscheinungsmerkmale wie die Haut- und Haarfarbe, vermutete Religionszugehörigkeit, mangelnde Sprachkenntnisse oder der soziale Status sind ausreichend, um diese Kontrollen durchzuführen. An jedem Bahnhof, in jeder Shishabar oder sogar auf dem Nachhauseweg nach der Arbeit von unseren 08/15 Jobs kann uns Racial Profiling passieren. Die neuen Polizeigesetze, die fast flächendeckend seit 2017 in Deutschland eingeführt worden sind, bestärken die Beamten bei ihrem Tun sogar. Gesamte Stadtteile werden als gefährlich eingestuft, sie berechtigen die Beamten dadurch dort anlasslos Personen- und Identitätskontrollen vorzunehmen, Personen zu befragen und durchsuchen sowie das Gelände per Video zu überwachen. Nicht so verwunderlich: Genau diese Stadtteile sind häufig Randbezirke, in denen Migranten, sozial Benachteiligte und wortwörtlich an den Rand getriebene Gruppen leben. Um es noch mal zu verdeutlichen: Der Verdacht ist unbegründet und findet seinen Halt auf rein rassischen Vorurteilen. Eine unabhängige Beschwerdestelle gibt es übrigens nicht. Und wie Beschwerden bei der Polizei, die die Polizei betreffen, geahndet werden, ist mittlerweile deutlich geworden.

Nur wir können was verändern
Wir haben ein Rassismusproblem in Deutschland. Der NSU, der Mord an Walter Lübcke, Halle oder Hanau sind die brutalen Anschläge mitten auf das Zusammenleben. Doch der Rassismus ist noch tiefer verankert. Er schlägt seine Wurzeln längst in öffentliche Bereiche und Behörden. Für den ein oder anderen ist das durchaus bekannt, manch anderer tut sich mit dem Gedanken immer noch schwer. Auch nach diesem Text. Das ist verständlich, denn als Menschen streben wir nach einer Welt, in der wir gut und gerne leben. Doch um gut leben zu können, gibt es Probleme, die wir aus der Welt schaffen müssen. Rassismus ist eben eines dieser Probleme, welches wir nur gemeinsam bekämpfen können. Wir können nicht auf die Einsicht von Horst Seehofer, einem Richter aus Sachsen-Anhalt oder der Polizei als solche warten – denn während wir warten, passieren rassistische Morde, Gewaltdelikte und Verbrechen immer weiter. Wenn wir aber gut und gerne leben wollen, dann können wir das nur gemeinsam.

Close