Oktay Demirel
Am 19. Oktober 2024 besuchte Bundeskanzler Olaf Scholz den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul, um über eine Vielzahl von Themen zu diskutieren. Dabei kamen sowohl bilaterale als auch internationale Themen auf die Tagesordnung. Neben der israelischen Eskalation im Nahen Osten, dem anhaltenden Krieg in der Ukraine und der Flüchtlingskrise ging es beiden Staatsoberhäuptern um Rüstungsdeals und eine pragmatische Erneuerung der Beziehungen. Scholz‘ Besuch in der Türkei war von zentraler Bedeutung, um die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei zu stabilisieren und die neue strategische Ausrichtung Deutschlands in der Weltpolitik zu untermauern.
Ein zentrales Thema des Gesprächs war die Lage im Nahen Osten, insbesondere die anhaltenden Kämpfe im Gazastreifen und im Libanon. Erdoǧan beschuldigte Israel erneut des Völkermords im Gazastreifen und kritisierte die israelische Kriegsführung scharf. Er forderte mehr Druck auf Israel, um humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu ermöglichen. Erdoğan verfolgt zumindest eine in Worten aggressive Rhetorik gegenüber Israel und stellt sich auf die Seite der palästinensischen Hamas, die er als „Befreiungsorganisation“ bezeichnet. Scholz wies den Völkermord-Vorwurf gegen Israel entschieden zurück und erklärte, dass Deutschland diesen nicht teile, betonte jedoch die Notwendigkeit, zivile Opfer auf allen Seiten gleichermaßen zu beklagen. Zudem hob er hervor, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen, dabei aber das Völkerrecht achten müsse. Für Deutschland sei der Begriff Völkermord in Bezug auf Israel aber nicht gerechtfertigt.
Er verwies hingegen auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, den er als klaren Bruch des Völkerrechts bezeichnete und stellte die Frage, was getan werden könne, damit dieser Krieg nicht ewig dauere. Er betonte, dass Russland die Sicherheit ganz Europas gefährde. Die Türkei spielt eine besondere Rolle bei diesem Konflikt, da sie trotz NATO-Mitgliedschaft enge wirtschaftliche und politische Beziehungen nach Russland und zur Ukraine unterhält.
Trotz der politischen Spannungen bezüglich Israel, zeigte sich bei dem Treffen eine -wie deutsche Medien erklärten- pragmatische Herangehensweise beider Länder in sicherheits- und wirtschaftspolitischen Fragen. Deutschland hat nach jahrelanger Zurückhaltung seine Rüstungsexporte in die Türkei wieder aufgenommen. Scholz verteidigte diesen Schritt, indem er betonte, dass die Türkei als NATO-Partner ein Recht auf Rüstungsgüter habe, die für die gemeinsame Sicherheit notwendig seien. Dies zeigt, dass wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen in den deutsch-türkischen Beziehungen oft Vorrang vor ideologischen Differenzen haben.
Die pragmatische Phase der Beziehungen
Die Türkei zeigt besonderes Interesse an der Lieferung von Eurofighter-Kampfjets, an deren Produktion Deutschland beteiligt ist. Bereits 2023 hatte Erdoğan bei seinem Staatsbesuch in Deutschland Interesse bekundet und Deutschland um Unterstützung bei der Lieferung geben, Scholz deutete an, dass Deutschland offen für solche Lieferungen sei, verwies jedoch darauf, dass die Verhandlungen hauptsächlich zwischen Großbritannien und der Türkei stattfinden würden.
Bundeskanzler Olaf Scholz verteidigte bei seinem Treffen mit Erdoğan die steigenden deutschen Rüstungsexporte in die Türkei, obwohl sie in vielen Konflikte selber aktiv beteiligt ist. Als NATO-Partner seien solche Lieferungen aber „selbstverständlich“. Erdoğan bekundete großes Interesse an einer engeren Zusammenarbeit im Rüstungsbereich und betonte, dass die Türkei hoffe, die in der Vergangenheit aufgetretenen Probleme bei der Beschaffung von Rüstungsgütern überwinden zu können. Insbesondere die mögliche Lieferung von rund 40 Eurofightern spielt dabei eine zentrale Rolle. Jedoch sollen auch andere Waffen geliefert werden. Nach Jahren der Zurückhaltung genehmigte die Bundesregierung dieses Jahr wieder mehr Rüstungsexporte in die Türkei. Bis zum 13. Oktober 2024 wurden laut Wirtschaftsministerium bereits 69 Genehmigungen im Gesamtwert von 103 Millionen Euro erteilt, davon 840.000 Euro für Kriegswaffen. Damit liegen die Exporte in die Türkei erstmals seit 2011 wieder im dreistelligen Millionenbereich. Ein Großteil davon, 101,1 Millionen Euro, entfällt auf Gemeinschaftsprojekte mit anderen Ländern.
Noch nicht in der offiziellen Statistik enthalten sind Exporte, über die Wirtschaftsminister Robert Habeck Ende September informiert hat. Dabei handelt es sich um die Lieferung von 28 Seahake-Torpedos und Zubehör im Wert von 156 Millionen Euro sowie 101 Lenkflugkörpern des Herstellers MBDA. Die Genehmigungen wurden vom Bundessicherheitsrat unter Vorsitz von Bundeskanzler Scholz bereits erteilt.
Dauerbrenner Migration
Ein weiteres bedeutendes Thema, das während des Treffens angesprochen wurde, war die Migration. Die Türkei soll weiterhin eine besondere Rolle in der Kontrolle der Einwanderung nach Europa spielen, insbesondere im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens. Scholz lobte in der gemeinsamen Presseerklärung die Türkei für ihre Rolle in der Migrationspolitik und betonte die Wichtigkeit einer anhaltenden Zusammenarbeit. Gleichzeitig verwies er auf die finanzielle Unterstützung, die die EU im Gegenzug zur Verfügung stellt. Deutschland hat ein besonderes Interesse daran, unkontrollierte Migrationsbewegungen nach Europa und Deutschland zu verhindern. Die neue Strategie Deutschlands, Facharbeitskräfte ins Land reinzuholen und unqualifizierte abgelehnte Asylbewerber abzuschieben, braucht eine starke Außengrenze, deren Rolle die Türkei sehr gerne übernehmen würde, wenn der finanzielle und politische Anreiz stimmt.
Neue Phase der Beziehungen
Insgesamt war der Besuch von Kanzler Scholz in Istanbul geprägt von einer „pragmatischen“ Herangehensweise beider Länder. Trotz einiger Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf geopolitische Fragen – wie die Haltung zur Hamas oder die Situation in Gaza – zeigen sowohl Deutschland als auch die Türkei, dass sie bereit sind, in Bereichen von beiderseitigem Interesse, ihre selbstgenannten Werte gegebenenfalls auch über Bord zu werfen. Die zunehmende wirtschaftliche Zusammenarbeit insbesondere im Rüstungsbereich ist ein Beweis dafür, dass die beiden Länder ihre Differenzen in bestimmten Bereichen beiseitelegen können, um sich gegenseitig strategische Vorteile zu sichern. Die zunehmend aggressivere und bestimmende Haltung Deutschlands in der Weltpolitik zeigt, dass Deutschland neue Strategien entwickelt, um ganz oben auf der weltpolitischen Bühne mitzuspielen und selbstgenannte „rote Linien“ pragmatisch aufzugeben, wenn die eigenen Interessen dadurch gewahrt werden können. Deutschland positioniert sich als eigenständige Macht in der Weltpolitik und versucht, die EU hinter sich zu einen, was -zuletzt gesehen bei den Zöllen für Fahrzeuge aus China- nicht immer gelingt.
Die deutsche Presse beschreibt diese Phase der Beziehungen als „pragmatisch“, was bedeutet, dass wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen im Vordergrund stehen. Dies ist besonders relevant angesichts der geopolitischen Herausforderungen, mit denen Europa und die Türkei konfrontiert sind – sei es durch den Krieg in der Ukraine oder die Krisen im Nahen Osten. In einer Welt, die zunehmend instabiler wird, setzen sowohl Deutschland als auch die Türkei auf eine Zusammenarbeit, die auf gemeinsamen Interessen beruht, auch wenn es in bestimmten Bereichen tiefgreifende Differenzen gibt. Dabei gießen sie selbst Öl ins Feuer und beschleunigen die Krisenherde durch ihre aggressive Eigeninteressenhaltung.