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Wer hat Angst vorm Streik?

Umut Yaşar

Am 27. März hat der Streik in ganz Deutschland, der den öffentlichen Nahverkehr und große Teile der Lieferkette erfasste, der Arbeiterklasse einen Eindruck von ihrer Stärke gegeben. Von dem Moment an, als der 24-stündige Warnstreik angekündigt wurde, haben alle Kräfte des Kapitals einen intensiven Angriff gegen das Streikrecht gestartet, weil sie Angst vor dem Streik, vor der kollektiven Aktion der Arbeiter haben. Die Angriffe auf das Streikrecht werden in der nächsten Zeit zunehmen, das ist sicher. Deshalb müssen wir überall diskutieren, dass die einzige Möglichkeit, das Streikrecht zu schützen, der Streik ist.

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG haben einen erfolgreichen Warnstreik organisiert. Der öffentliche Verkehr kam landesweit fast vollständig zum Erliegen: Stadtbusse, Straßen- und U-Bahnen, S- und Fernzüge, Hunderte von Flügen wurden gestrichen oder verspätet abgefertigt, und der Schiffsverkehr wurde in den großen Häfen und Flusskanälen eingestellt.

Dem Aufruf von ver.di  und EVG sind 160.00 Beschäftigte  zum Streikaufruf gefolgt. Obwohl es keine eindeutigen Informationen über die Beteiligung der im Deutschen Beamtenbund (DBB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften gibt, die an den Tarifverhandlungen teilnahmen und den Warnstreik unterstützten, wird angegeben, dass sich die aufgreufenen Beschäftigte an dem Streik beteiligten.

„DAS STREIKRECHT WIRD MISSBRAUCHT“

Die Tatsache, dass die Forderungen im öffentlichen Dienst, bei der Post und der Bahn, wo es mehr Niedriglohnempfänger gibt als in den großen Industriesektoren, zweistellig waren (10,5 / 12 / 15 %) und eine „Mindesterhöhung der Löhne um 500 / 650 Euro“ beinhalteten, deutete darauf hin, dass die Tarifverhandlungen in diesen Sektoren hart sein würden.

Die Kapitalseite griff die Erhöhungsforderungen der Beschäftigten als „Verstärkung der Lohn-Preis-Spirale“ an. Aber schon lange vor Beginn der Warnstreiks und der Ankündigung des Warnstreiks, der als „Mega-Streik“ bekannt wurde, behauptete Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dass „die Akzeptanz des Streikrechts in der Gesellschaft gefährdet“ sei und forderte rechtliche Maßnahmen, falls „der Missbrauch des Streikrechts“ weitergehen sollte.

Karin Welge, Vorsitzende des Kommunalen Arbeitgeberverbandes, kritisierte Streiks in Kindertagesstätten und anderen Bildungsbereichen, behauptete, dass „gewerkschaftliche Aktionen die Gefahr einer Radikalisierung bergen“ und forderte, dass „Streiks in gesellschaftskritischen Bereichen eingeschränkt werden sollten“.

In den Medien wurden Debatten mit Überschriften, wie „das Streikrecht darf nicht missbraucht werden“ und „die gesetzlichen Grenzen dürfen nicht überschritten werden“ geführt. Es scheint so, daß, je nach  Verlauf der Tarifvarhandlingen fortgeführt werden.

GIBT ES EIN STREIKRECHT IN DEUTSCHLAND?

Obwohl die Vertreter des Kapitals viel über das „Streikrecht“ reden, gibt es in Wahrheit kein Gesetz, das das „Streikrecht“ in Deutschland regelt. Oder anders ausgedrückt: Es gibt in Deutschland kein „Streikrecht“ per se. Es gibt nur das Streikrecht für Tarifverträge (d.h. arbeitsrechtliche Streiks), und das basiert auf Artikel 9 (3) des Grundgesetzes (GG).

Die Regeln für Streiks sind nicht gesetzlich festgelegt. Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte bestimmt, unter welchen Bedingungen die Arbeiter in Deutschland streiken dürfen. Die Beschäftigten können nur auf Aufforderung einer kollektiven Vertretung streiken, um Ziele zu erreichen, die durch Tarifverträge geregelt werden können. Und dieses Kollektiv kann nur dann zum Streik aufrufen, wenn es „in der Lage ist, den Streik zu beenden“.

Wenn sich die Vertreter des Kapitals auf das so genannte „Streikrecht“ berufen und fordern, dass es „nicht missbraucht werden darf“, versuchen sie in Wirklichkeit, das sehr begrenzte „Streikrecht“ weiter einzuschränken. Wann immer in den vergangenen Jahren ein ernsthafter Streik auf der Tagesordnung stand, war die Haltung des Kapitals die gleiche. Während der unbefristeten Streiks der Gewerkschaft GDL in den Tarifperioden 2007/2008 und 2014/2015 beantragte die Deutsche Bahn parallel bei mehreren Gerichten eine „rechtliche Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Streiks“, um die Streiks zu verbieten. Später wurden auch die Streikaufrufe von ver.di in Kliniken und zuletzt in Häfen gerichtlich angefochten.

Für das Kapital kann kein Streik jemals „verhältnismäßig“ sein und sollte daher nie auf der Tagesordnung stehen. Wenn nötig, muss diese Entscheidung auf dem Rechtsweg getroffen werden!

AUCH DIE GEWERKSCHAFTSHÜROKRATIE SIND NICHT FÜR STREIKS

Auch in den Gewerkschaften wird die Frage des Streiks unterschiedlich angegangen. Die Haltung der „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals und des Standortschutzes“, die für die Gewerkschaftsbürokratie ein Prinzip ist, spiegelt sich in den Tarifauseinandersetzungen als „Kompromissfindung unter allen Bedingungen“ wider.

Sie betrachten Streiks als „einen Zustand, den man abwenden muss“. Sie zögern nicht, alle möglichen Tricks anzuwenden oder die sehr konkrete Inflationszahl anders zu „interpretieren“, um die Arbeiter von einem schlechten Kompromiss zu überzeugen. Sie können die Aussage „Im letzten Jahr gab es eine Inflation von 7,9 %, die Reallöhne sanken um 4,1 %“ dutzende Male wiederholen, ohne rot zu werden. Es ist jedoch mathematisch unmöglich, dass die Reallöhne in einem Zeitraum, in dem die Inflation 7,9 % betrug, um 4,1 % gesunken sind.

Kurzum, die Gewerkschaftsbürokratie tut ihr Bestes, um die Streikerfahrung, die dazu beiträgt, dass die Arbeiter und Werktätigen ihre Macht erkennen und ein Klassenbewusstsein entwickeln, auf „Warnstreiks“ zu beschränken. Während Warnstreiks der Basis den Eindruck vermitteln, dass „wir kämpfen“, fungieren solche Aktionen gleichzeitig als Ventil, um den Druck in der Basis zu verringern.

FÜR EIN UMFASSENDES STREIKRECHT!

In den Seminaren der IG Metall zum Thema Streik war bis Mitte der 90er Jahre ein berühmte US-amerikanische Gewerkschafterin zu hören, sie sagte, dass jeder Arbeiter mindestens einmal alle zwei Jahre streiken sollte, dann würde er merken, wie viel Macht er hat. Die unbefristeten Streiks für die 35-Stunden-Woche im Jahr 1984 und der 11-tägige Streik der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im Jahr 1992 wurden ebenfalls in Seminaren behandelt.

In den folgenden Jahren wirkte sich jedoch die Tatsache, dass Streiks als „zu vermeidend“ und nicht als Mittel zur Durchsetzung der Forderung angesehen wurden, negativ auf die Arbeiterklasse im Allgemeinen aus.

Das ermutigt das Kapital, dieses Recht anzugreifen. Die Unionsparteien haben längst einen Gesetzentwurf zur Einschränkung des Streikrechts ausgearbeitet und betonen dies bei jeder Gelegenheit. Der Angriff am 27. März, mit „wie lange wollen wir noch zusehen, wie ein ganzes Land in Geiselhaft genommen wird“, zeigt uns dies: Wenn wir das bestehende Streikrecht schützen wollen und wenn wir ein echtes Streikrecht wollen, das auch den politischen Streik einschließt, müssen wir den Streik in der Gesellschaft legitimieren, indem wir das Instrument Streik immer stärker nutzen.

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