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‚Wir verdienen mehr!‘: Streiks im Einzelhandel

Sidar Carman

Es ist Streik im Einzelhandel. Mit der Kündigung der Entgelttarifverträge ist der Weg frei für den Arbeitskampf für fast drei Millionen Beschäftigte im Einzelhandel. Betroffen sind u.a. Großunternehmen im Textil- und Lebensmitteleinzelhandel wie Kaufhof, Kaufland und H&M. Die Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft ver.di und dem Arbeitgeberverband HDE (Handelsverband Deutschland) werden auf regionaler Ebene geführt. Im baden-württembergischen Einzelhandel wurden die Entgelttarifverträge Ende April 2017 gekündigt. Im Großraum Stuttgart gilt seit Ende Mai: Jetzt streikt´s!

Für die rund 500.000 Einzelhandels-Beschäftigte in Baden-Württemberg fordert ver.di eine Entgelterhöhung von 6%, ein tarifliches Mindesteinkommen von 1.900 Euro und die Stärkung der Tarifbindung durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifverträge (AVE). Letztere ist eine Reaktion auf die zunehmende Tarifflucht der Arbeitgeber. Diese Forderung ist besonders wichtig, weil ver.di damit eine politische Forderung aufstellt mit dem Ziel, die Tarifverträge für die gesamte Branche gesetzlich festzuschreiben, wie sie bis zum Jahr 2000 auch üblich war. D.h. die Tarifverträge gelten für alle Unternehmen, unabhängig ob sie Mitglied im Arbeitgeberverband sind oder nicht. Mit 460 Milliarden Euro Jahresumsatz und knapp drei Millionen Beschäftigten zählt der Einzelhandel zu den größten Wirtschaftsbranchen. Doch die Branche droht aus Sicht der Beschäftigten zu einer gefährlichen Spielwiese der Großunternehmen zu verkommen. Vor zwanzig Jahren arbeitete die Mehrzahl der Beschäftigten noch in Vollzeit – heute ist nur noch gut ein Drittel in Vollzeit beschäftigt, ein Drittel arbeitet in Teilzeit, fast ein Drittel sind Minijobs. Kurzum: 63 % der Beschäftigten im Einzelhandel sind in Teilzeit oder als Minijobber tätig. Stress ohne Ende, kaum Zeit zum Luftholen, immer weniger Zeit für die Kunden. Übrig bleibt dann meist nur ein gehetztes „Schönen Tag noch!“

Heute ist kein Arbeitstag – heute ist Streiktag!

Im Großraum Stuttgart befinden sich seit Ende Mai die Beschäftigten von Kaufhof, Kaufland, Zara, H&M, Esprit, OBI im Streik. Sie kämpfen für ihre ökonomische Forderung nach 6% mehr Lohn und Gehalt. Doch ihr Arbeitskampf richtet sich gleichzeitig gegen die chronische Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen, wie konkret gegen den angedrohten Ausstieg aus dem Tarifvertrag von Kaufhof, gegen den Einsatz von Leiharbeit bei ZARA, gegen den Abbau von Arbeitsplätzen bei Kaufland oder wie bei H&M gegen die willkürliche Kündigung von kämpferischen Betriebsräten oder Beschäftigten – vor allem Mamis, die für den Arbeitgeber nicht mehr nützlich sind, weil sie nicht flexibel eingeplant werden können. Sie zeigen eindrucksvoll ihren Mut, sich gegen den Arbeitgeber zu stellen. In den ersten Reihen stets die jungen Beschäftigten von H&M, vor allem viele junge Frauen – größtenteils mit Migrationshintergrund. „Ich merke, dass ich hier verstanden werde. Der Zusammenhalt ist einfach genial – Eben, einer für alle, alle für einen“ – so eine junge Beschäftigte über ihren ersten Streik. Es bestätigt sich wieder einmal: Der Streik im Einzelhandel gehört zu den dynamischsten und kreativsten Arbeitskämpfen. So heißt es in Stuttgart immer öfter: Heute ist kein Arbeitstag – heute ist Streiktag!


„Einer für alle, alle für einen!“

Sinem D.*, Kaufhof

Ich streike, weil der Tarifvertrag gekündigt ist. Wir fordern 6% mehr Lohn und Gehalt und kämpfen natürlich auch dafür, um unsere Gehälter zu schützen, wir wollen eine Gehaltserhöhung. Natürlich sind wir alle genervt, weil es sich alles in die Länge zieht, aber wir kämpfen bis zum Umfallen. Streiken ist für uns immer etwas Besonderes. Vor allem der Zusammenhalt und der Tarifvertrag, der ganz wichtig ist.

Mario G.*, Kaufhof

Wir verdienen einfach zu wenig im Einzelhandel und wir haben viele Teilzeitbeschäftigte, die nur 1 Tag oder 2 Tage in der Woche arbeiten. Wir brauchen bessere Gehälter, damit auch unsere Rente gesichert ist. 60% aller Beschäftigten in unserem Betrieb ist in Teilzeit.

Tanja Z.*, H&M

Ich arbeite seit 4 Jahren in Vollzeit bei H&M. Ich streike, weil wir mehr verdienen. Wir arbeiten sehr viel, damit es unserer Filiale gut geht. Es ist echt viel Arbeit hinter den Kulissen. Es gibt sehr viel Druck und Undankbarkeit. Das spürt man eben. All das sorgt auch dafür, dass wir heute streiken. Ich streike zum ersten Mal – und ich fühle mich sehr gut. Beindruckend ist, wie die Kollegen alle hier füreinander da sind. Einer für alle, alle für einen – das erlebe ich hautnah im Streik.

Aylin M.*, H&M

Wir leisten viel mehr Arbeit, als was wir an Gehalt bekommen. Ich arbeite seit 3 Jahren in Teilzeit bei H&M. Aber ich arbeite wie Vollzeit. Ich muss regelmäßig Überstunden machen. Doch die Überstunden bringen mir gar nichts, weil am Monatsende wiederum viel abzogen wird. Wir sind zu wenig Personal. Oft muss eine Kollegin die Arbeit von 3 machen. Und dann müssen wir uns immer noch anhören: „Ihr seid zu langsam, die Arbeit ist immer noch nicht gemacht.“ Ich streike zum ersten Mal – und es war wirklich nicht schwer. Streiken ist mein Recht. Egal wie lange es geht – ich merke, hier werde ich verstanden. Hier sind Kollegen, die genau das repräsentieren, was wir schon immer sagen. Wir werden gehört.

Belgin T.*, H&M

Ich habe schon öfters gestreikt. Ich bin dabei, weil wir für das, was wir leisten, mehr verdienen. Ich bin alleinerziehende Mutter. Ich arbeite in Teilzeit, habe kaum Zeit für einen zweiten Nebenjob, den ich aber dringend brauche. Ich bin ehrlich gesagt auf dem Existenzminimum. Für das, was wir leisten, was wir für die Kunden an Service bieten, bekommen wir viel zu wenig Geld. Arbeit auf Abruf ist bei uns ein ganz verbreitetes Problem, gerade für Mamis, die aus der Elternzeit zurückkehren. Diese Kolleginnen werden in Schichten eingeteilt, so dass sie immer Probleme mit der Betreuung der Kinder haben. Der Arbeitgeber stellt dann immer mehr Leute ein, die dann flexibel arbeiten. So entsteht ein Wettbewerb zwischen den Festangestellten und den Flexi-Kräften.

Peter G.*, ZARA

Die Forderung der Kollegen von ZARA ist eine gemeinsame Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Handel. Sei es bei den Stellen, die nicht nachbesetzt werden und mit „per Bedarf“ (Leiharbeit) abgedeckt wird. Des Weiteren ist ein großes Problem die Verfügbarkeiten der Mütter. Eine Schicht sollte für eine Mutter nie bis 18.30 Uhr gehen. Die Kollegen und ich sind der Meinung: Jede Mutter sollte das Recht haben, ihr Kind ins Bett zu bringen.

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