Written by 15:53 DEUTSCH, TÜRKEI

Echte Solidarität und Krokodilstränen

Alev Bahadır

Die Welle der Solidarität, die nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei aufrollte, war gigantisch. Auf allen möglichen Kanälen, von Instagram bis hin zur Tagesschau ging es tagelang nur um das Erdbeben, das über 46.000 Menschen das Leben gekostet hat. Tausende Menschen wollten und wollen nach wie vor helfen. Staaten, wie Deutschland reagieren jedoch nur mit vermeintlicher Hilfe.

Spendensammlungen, LKWs und vieles mehr…

Zahlreiche Organisationen, wie Ärzte ohne Grenzen, Medico international oder andere haben zu Spendenkampagnen aufgerufen, denen Tausende gefolgt sind. Überall wurden Kleider- und Sachspendensammlungen gestartet, LKWs machten sich mit den Spenden auf zur türkischen Grenze. Auch wenn natürlich zwischendrin auch Bilder davon aufgekommen sind, dass vereinzelt Menschen Stöckelschuhe etc. gespendet haben, ist das nur eine Ausnahme in einer breiten Solidaritätswelle. Schulen haben Spendenaktionen gestartet, Kommunen haben Aufrufe gemacht. Ohne zu zögern wurde gespendet. Auch DIDF hat eine Spendenkampagne gestartet. Die eingenommenen Spenden werden mit einer Delegation in die Türkei gebracht und direkt, in Kooperation mit lokalen Partnern für die unmittelbaren Bedürfnisse vor Ort eingesetzt. Und nicht nur die internationale Solidarität ist bemerkenswert, sondern auch die nationale. So wurden auch LKWs aus anderen türkischen Städten gestartet, Spenden wurden gesammelt, Menschen reisten in die Erdbebenstädte um zu helfen.

Internationale Rettungsteams waren vor Ort

Während die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD bekanntlich erst nach Tagen in manchen Regionen ankam, waren fast 6.500 Helfende aus anderen Ländern in der Türkei, um bei der Bergung der Menschen, die unter den Trümmern gefangen waren, zu unterstützen. Aus Griechenland, Armenien, Israel, Spanien und vielen weiteren Ländern waren Hilfskräfte unmittelbar nach der Katastrophe in die Türkei, aber auch nach Syrien angereist. Auch aus Deutschland waren mehrere Hilfsorganisationen vor Ort und haben an der Rettung teilgenommen. Hervorzuheben ist hier ebenfalls, dass es sich vor allem um freiwillige Helfer handelte. So ist auch das Technische Hilfswerk (THW) zwar eine Bundesanstalt und dem Bundesinnenministerium unterstellt, besteht jedoch zu 98 % aus ehrenamtlichen Freiwilligen. Mittlerweile sind die Rettungseinsätze, auch durch AFAD, weitestgehend beendet. Mehrere ausländische Teams hatten sich bereits im Vorfeld zurückgezogen. Grund waren u.a. die Kritik an der späten Hilfe der türkischen Einsatzkräfte, der Einsatz von Baugeräten, die gefährlich für die unter den Trümmern Gefangenen sein können und teilweise auch rassistische Anfeindungen.

Krokodiltränen der Regierungen

Während die Menschen in der Türkei und in anderen Ländern direkte und ehrliche Solidarität zeigten, vergießen die Regierenden wie immer Krokodiltränen. Zu allererst ist hier die türkische Regierung zu nennen. Wenn man über das Ausmaß der Katastrophe spricht, muss deutlich gemacht werden, dass es die Schuld der türkischen Regierung und ihrer Freunde aus der Bauindustrie ist. Über Jahre hinweg wurde über Bauvorschriften hinweggesehen. Baufirmen konnten mit billigem Material Kartenhäuser errichten, die bei dem Erdbeben schließlich in sich zusammengefallen sind. Dass Erdogan bei einem Besuch in Maraş drei Tage nach dem Beben betroffenen Familien 10.000 TL (etwa 500 Euro) Soforthilfe versprach, während er und seine Freunde sich seit Jahren die Taschen füllen, ist mehr als höhnisch. Ebenso die Ansprache, dass jetzt nicht die Zeit für Politik sei, wobei die Folgen des Bebens unmittelbar politisch sind. Oder wie sonst soll man es nennen, wenn Erdbebenwarnungen konsequent ignoriert wurden, die Hilfe in Gebieten, in denen die Opposition stark ist, viel zu spät eintraf, Menschen, die sich unmittelbar nach der Katastrophe kritisch äußerten verhaftet wurden und die Erdbebensteuer von 88 Mrd. TL veruntreut und der Bauindustrie in den Schlund gesteckt wurde? Die Naturkatastrophe konnte nicht verhindert werden, das Ausmaß und die Folgen sind hochpolitisch, deshalb sind auch die Aufforderungen Erdoǧans und seiner Lobbyorganisationen in Deutschland, dass jetzt nicht die Zeit für Politik sei, nichts anderes als der Versuch die Schuld von sich zu weisen.

Und schaut man sich die Reaktionen der Bundesregierung an, ist sie fast genauso verlogen. 50 Millionen Euro Hilfe hat Außenministerin Annalena Baerbock für Syrien zugesagt. Diese sollen an vor Ort tätige Hilfsorganisationen gehen. Dabei tut die Bundesregierung gerade das notwendigste, um die Menschen in der Region zu behalten, statt ihnen z.B. die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Nachdem groß Visaerleichterungen versprochen wurden, ist das Bild doch ernüchternd. Denn zwar können z.B. Türkeistämmige in Deutschland Verwandte 1. und 2. Grades, die unmittelbar vom Erdbeben betroffen sind, für drei Monate zu sich holen, doch sind dafür zahlreiche Dokumente notwendig. So etwa der Reisepass oder ein Nachweis über das Verwandtschaftsverhältnis. Wie Menschen, die nur mit dem, was sie am Leib hatten, fluchtartig im Morgengrauen ihr Zuhause verlassen mussten, diese Dokumente erbringen sollen, ist offen. Noch schwieriger ist es für die Menschen in Syrien. Denn diese müssen erstmal in eine deutsche Botschaft kommen, die in Syrien nicht existiert. Also müssen sie entweder nach Jordanien, in den Libanon oder in die Türkei reisen. Das zeigt mal wieder, dass die alte Regelung die Schotten geschlossen zu halten, nach wie vor gilt. Die gleichen Geflüchteten, die vor dem IS nach Europa fliehen wollten, aber in der Türkei – dank des Deals mit der EU – festgehalten wurden, sind jetzt ebenso vom Erdbeben betroffen und müssen sich mit dem gegen sie andauernden Rassismus auseinandersetzen. So verbreiten türkische Medien die „Nachrichten“, dass Geflüchtete plündern würden. So kann man in dieser schwierigen Zeit wieder Sündenböcke schaffen.

Das Erdbeben hat einmal mehr gezeigt, dass die Bevölkerung sich selbst am nächsten ist. Dass Nachbarinnen und Nachbarn ihre Freunde aus den Trümmern mit bloßen Händen befreiten, Tage bevor die Rettungskräfte von AFAD überhaupt in die Städte kamen. Was den Schmerz lindern wird, ist die internationale Solidarität.

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